Flucht übers Watt
jetzt nicht da ist ... «
»Nee, der is nich da. Der is gleich nach dem Frühstück los. Ich war ja grad oben und hab die Betten gemacht.«
»Dann würden wir gern kurz mal einen Blick in sein Zimmer werfen.«
Eingezwängt zwischen dem wollenen Vorhang und dem gestapelten Toilettenpapier, brach Harry der Schweiß aus.
»Ja, wenn Sie meinen, Herr Kommissar.«
»Meret, das ist schon in Ordnung«, beruhigte Hark Tadsen sie.
Die drei polterten die Treppe herauf.
»Haben Sie die Pension schon lange?«, bemühte der Kommissar sich währenddessen um Konversation.
»Seit einundsechzig«, antwortete sie prompt. »Den Winter drauf war dann gleich die große Sturmflut.«
»Für mich ist das ja nichts, die Nordsee«, brummte Seehase missmutig. Und dann wieder etwas offizieller: »Dieses Zimmer hier?«
»Nee, nee, nicht ›Lachmöwe‹, hier ›Eiderente‹.«
»Eiderente, soso.« Das klang auf hessisch, als hätte es mit dem Nordseevogel nicht mehr viel zu tun.
»Na, die Eidäendä ist wohl ausgeflogen.« Seehase lachte kurz gackernd über seinen Witz. Er war der Einzige.
Seine Stimme war jetzt ganz nah, unmittelbar neben |242| ihm. Harry hielt den Atem an. Er drückte sich ganz eng an die Klopapierrollen, damit er die Gardine nicht bewegte und seine Füße darunter nicht zu sehen waren. Ein besonders sicheres Versteck war das hier wahrhaftig nicht. Der Kommissar klopfte bedrohlich donnernd an die Zimmertür.
»Herr Heide, sind Sie da? Hier ist die Polizei.« Harry hörte jetzt deutlich Seehases Zischeln zwischen Zunge und Zähnen.
Dann drückte der Kieler Kommissar die Klinke und öffnete die Tür.
»Das ist doch nicht möglich. Ich hab doch abgeschlossen.« Harry hörte Frau Boysen mit einem Schlüsselbund klimpern.
»Jetzt is aber auf, Meret«, sagte Tadsen trocken.
»Das kann nich sein. Ich hab doch grad Betten gemacht.«
»Na ja, siehst doch.«
»Komisch.«
Harry hörte, wie die drei das Zimmer betraten und ihre Stimmen etwas leiser wurden. Er lugte vorsichtig aus seiner Wäschekammer heraus. Sollte er es wagen, über die Treppe schnell abzuhauen? Aber die Tür seines Zimmers stand immer noch offen. Im Türrahmen vor dem Eiderenten-Schild sah er den breiten Rücken von Hark Tadsen in seiner zu engen grünen Polizeijacke. Harry zog sich wieder zu seinen Klorollen zurück.
»Is tatsächlich nicht da«, stellte der Nebeler Beamte noch einmal fest. Dann zog er die Zimmertür hinter sich ran. Ganz ins Schloss fiel sie nicht. Aber die Stimmen waren nicht mehr so deutlich zu hören.
|243| »Frau Boysen, ich werfe mal einen Blick in den Schrank. Der Schlüssel steckt ja.«
»Das gibt’s doch gar nicht!«, entrüstete die Pensionswirtin sich lautstark. »Eben war der Schlüssel weg.« Sie verstand die Welt nicht mehr.
»Ja, Meret, und nu is er wieder da.«
»Nu hört es aber auf, Hark! Ich bin doch nicht verrückt.«
Harry guckte erneut hinter seiner Gardine hervor. Besonders gut stand er hier nicht. Wer weiß, ob Frau Boysen nicht jeden Moment etwas aus der Kammer holen wollte. Jetzt war die Gelegenheit abzuhauen, solange die drei in seinem Zimmer beschäftigt waren. Er schlich, indem er die Füße in seinen Sportschuhen ganz behutsam abrollte, in Richtung Treppe. Dabei behielt er fortwährend die angelehnte Tür seines Zimmers im Blick. Ganz kurz hielt er noch einmal inne und horchte.
»Nein, diese Neckermann-Tüte kann ich nirgends entdecken«, sagte Seehase gerade.
In dem Moment wurde ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel, die Tür direkt neben ihm aufgerissen. Harry war zu überrascht, um irgendwie reagieren zu können. Neben ihm stand Silva Scheuermann-Heinrich, wie eine Erscheinung. Sie trug wieder das afrikanische Festgewand mit den grünen und orangen Blüten auf knallgelbem Grund.
»Schnell, komm«, hauchte sie ohne das übliche Quäken in ihrer Stimme. Gleichzeitig zog sie ihn mit beiden Händen rabiat an seinem Troyer in ihr Zimmer. Harry fühlte sich unweigerlich an das Handgemenge |244| mit dem Fährmann erinnert. Aber Silva hatte anderes vor.
Nachdem sie ihn in den Raum bugsiert hatte, drehte sie ihn blitzschnell herum, sodass sie jetzt mit dem Rücken zur Tür stand. Harry streckte den Arm, in dem er die Plastiktüte hielt, ein Stück von sich, damit die Bilder nicht verknickten. Ohne die Hände von ihm zu lassen, stieß sie die Tür mit einem geschickten kleinen Fußtritt nach hinten, dass sie kaum hörbar ins Schloss fiel.
Ehe er sich versah, schlang sie beide Arme um seinen
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