Flucht übers Watt
noch?«
»Seeschwalbe, das Zimmer nebenan.«
Harry fuhr zusammen. Aber Silva schien auf alles vorbereitet.
»Ich kann dich verstecken«, flüsterte sie. »Schnell. Es gibt hier noch ein anderes Zimmer.« Sie führte ihn geschäftig durch eine zweite Tür in einen kleineren Nebenraum, der fast vollständig von einem Etagenbett ausgefüllt wurde.
»Lass mich nur machen. Ich werde mit diesen Polizisten schon fertig.«
Sie hatte die Tür gerade geschlossen, als es klopfte.
»Frau Scheuermann ... äh?«, hörte Harry den hessischen Tonfall des Kommissars.
»Einen Augenblick«, rief Silva mit gewohnt quakiger Stimme. »Ich habe mich grad einen Moment hingelegt. Sofort.«
|248| Sie ließ die Polizisten eine ganze Weile warten, bis sie zur Tür ging. Die ist wirklich abgebrüht, dachte Harry. Er legte seine Bilder auf dem oberen der Betten ab. Neben dem Etagenbett in der Dachschräge konnte er kaum stehen. Nur vor dem kleinen ungewöhnlich tiefliegenden Gaubenfenster war etwas Platz. Das Fenster brachte ihn auf eine Idee: Würde das Reetdach des alten Friesenhauses ihn eigentlich tragen, wenn er hier aus der Dachluke kletterte? Aber gab es eine Alternative? Die Aquarelle hatte er dabei. Und wegen der ›Feriengäste‹ konnte er zurückkommen, wenn die Polizei abgerückt war.
Nebenan hörte er Silva mit Seehase diskutieren. Sie schlug den Polizisten gegenüber einen überraschend unverschämten Ton an.
»Ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Ich hab mich grade noch mal hingelegt. Ich fühl mich heute nicht so.«
»Es geht noch mal um Ihre Aussage«, sagte der Kommissar.
»Ich kann Ihnen da auch nicht weiterhelfen«, motzte sie zurück. »Und ich bin mir sicher, Herr Heide kann Ihnen auch nichts weiter sagen.«
Die Verrückte tat ihr Bestes, um sich ihm als Komplizin zu empfehlen, dachte Harry. Er saß jetzt auf dem Fußboden und machte sich an dem Gaubenfenster zu schaffen. Es ließ sich gar nicht so leicht öffnen. Schloss und Scharniere waren eingerostet oder oxidiert, als wären sie seit Monaten nicht geöffnet worden. Und als das Fenster dann mit einem plötzlichen Ruck nach außen aufsprang, drohte gleich der ganze |249| Fensterflügel aus dem Rahmen zu fallen. Harry streckte den Kopf hinaus. Der Blick ging in den Garten mit Obstbäumen, der von der Straße nicht recht einsehbar war. Er konnte niemanden entdecken. Die Luft schien rein. Er nahm die Tüte mit den Bildern und zwängte sich mit den Füßen zuerst durch das Halbrund der Luke.
»Meine Güte, dann wird es wohl ein anderer Abend gewesen sein, dass ich mit Herrn Heide Tee mit Rum getrunken habe«, hörte er Silva Scheuermanns durchdringendes Organ, während er grade mit seinem Anorak an einem Haken im Fensterrahmen hängen blieb.
»Und was wir für ein Verhältnis haben, das geht Sie nun wirklich gar nichts an. Aber auch gar nichts«, schimpfte sie. Da befand sich Harry bereits auf dem Dach und drückte das Fenster vorsichtig wieder zu.
Halb lag er, halb saß er auf dem Dach. Die Tüte hielt er leicht von sich gestreckt in der rechten Hand, während er sich mit der linken nach unten tastete. Man hatte von hier oben eine wunderschöne Aussicht auf die Nebeler Kirche und die Reetdächer des Dorfes. Auf dem First des Nebenhauses bei Wilma Feuerstein stocherte gerade ein Austernfischer mit seinem langen spitzen roten Schnabel in dem Heidereisig der Dachkrone.
Die Schräge war überraschend steil. Das stellenweise mit Moos bedeckte Reet war feucht und glitschig. Es machte einen porösen, nicht sonderlich haltbaren Eindruck. Um wieder Halt zu bekommen, winkelte Harry ein Bein an. Dabei passierte es. Er rutschte auf einmal mit beängstigender Geschwindigkeit das Dach |250| hinunter, wollte mit den Füßen stoppen und trat dadurch regelrecht in das Dach hinein. Sein rechtes Bein war sofort bis zum Knie im Reet verschwunden. Die Neckermann-Tüte hatte er vor Schreck hochgerissen. Das musste im Haus doch sicher zu hören gewesen sein. Harry lauschte angestrengt, doch außer dem Geschrei zweier Möwen, die Richtung Kniepsand segelten, war nichts zu hören.
Vorsichtig zog er den Fuß aus dem Reet heraus. Fast hätte er seinen rechten Schuh dabei verloren. Viel hätte nicht gefehlt, und er wäre in Frau Boysens Küche oder sonst wo im Haus gelandet. Er hatte ein beachtliches Loch im Dach hinterlassen. Das sah nach einem richtigen Schaden aus. Unruhig beobachtete er, ob jemand unter ihm im Garten erschien. Aber es war niemand zu sehen. Eilig schlitterte er
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