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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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völlig verunsichert. Er könnte ja verhaftet werden. Diese Möglichkeit hatte er vorher nie in Betracht gezogen. Und falls er irgendwie in Bedrängnis kommen sollte, würde er den Umschlag einfach unbemerkt in den nächsten Briefkasten werfen. Es war natürlich riskant, die wertvollen Bilder an eine unbekannte Adresse zu schicken. Aber besser, als dass die Polizei ihn damit erwischte, war es allemal.
    Er holte den kleinen Zettel mit der Anschrift aus seiner Brieftasche und schrieb mit einem altersschwachen Filzstift in deutlichen Großbuchstaben:
    MR.   SAM LIEBERMANN
    127   EAST 10TH STREET
    NEW YORK CITY, USA
    Bei den letzten Buchstaben gab der Stift fast seinen Geist auf. Harry steckte die drei Nolde-Aquarelle in die Plastikfolie. Dabei warf er noch einen schnellen letzten Blick auf das ›Seltsame Paar‹. Es fiel ihm schwer, das Bild in dem Umschlag verschwinden zu lassen. Als er gerade die Gummierung des Briefumschlags anlecken wollte, hörte er Stimmen draußen im Treppenhaus. Oder an der Tür?
    Harry horchte nervös. Es war die Stimme von Meret Boysen und eine andere, die so leise war, dass er sie nicht verstehen konnte. Er sah aus dem Fenster und bekam einen gewaltigen Schreck. Auf dem Sandweg direkt vor dem Eingang der »Nordseeperle« stand |239| groß, bedrohlich und burgunderrot – der »Scorpio« von Kommissar Seehase.
    Hatte der Kommissar ihn also etwa doch auf diesem missratenen Phantombild erkannt? Harrys Puls raste. Würde Meret Boysen den kleinsten Kommissar Norddeutschlands an der Tür abwimmeln? Darauf konnte er sich wirklich nicht verlassen. Vielleicht hatte sie ja doch mitbekommen, dass er im Haus war. Dann musste er damit rechnen, dass die beiden hier gleich vor seinem Zimmer standen. Er horchte noch an der Tür. Aber die Stimme des Kommissars war zu leise. Nur die Worte »Klabautermann« und »Wyker Dampfschiffs-Reederei« meinte er zu verstehen.
    Harry wurde hektischer. Er zog sich seinen Anorak an und ließ den Briefumschlag in der Neckermann-Tüte verschwinden. Für die ›Feriengäste‹ an der Wand hinter dem anderen Bild war im Augenblick keine Zeit. Darum musste er sich später kümmern. Aber die Aquarelle nahm er zur Sicherheit lieber mit. Und er schnappte sich noch die in Wittdün gekaufte Zahnbürste vom Waschbecken. Er wusste auch nicht, warum.
    Ganz behutsam öffnete er die Tür und lauschte. Dabei hatte er den Treppenaufgang und das oberste der verblichenen Robbenfotos im Blick. Jetzt war der hessische Akzent des Kommissars deutlich zu verstehen.
    »Nun beruhigen Sie sich doch. Wir wissen, dass Sie mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Wir wollen nur mit Ihrem Gast, Herrn Heide, sprechen.«
    »Mir kam das ja gleich komisch vor. Der ist hier nur mit der Neckermann-Tüte angekommen. Aber man |240| ist ja zu gutmütig. Heute Nacht is er erst überhaupt nich nach Hause gekommen und dann um zehn zum Frühstück. Aber immer freundlich.«
    »Eine Neckermann-Tüte sagen Sie?«
    »Ja, Neckermann! Ist doch nicht normal!«
    Jetzt hörte Harry einen Satz, den er nicht verstehen konnte, wahrscheinlich Nordfriesisch. Ein Mann mit tiefer schleppender Stimme antwortete ebenfalls auf Nordfriesisch. Nur das Wort »Neckermann« konnte Harry verstehen. Seehase hatte offensichtlich seinen Amrumer Kollegen Tadsen dabei.
    »Haben Sie zufällig gesehen, was in seiner Tüte drin war?«, fragte jetzt wieder der Kieler Kommissar.
    Die Antwort verstand er nicht, aber er musste jeden Moment damit rechnen, dass die drei zu ihm hochkamen. Leise zog er die Zimmertür hinter sich zu. Er schloss nicht ab. Das wäre wahrscheinlich zu hören gewesen. Auf Zehenspitzen schlich er ganz behutsam zu der kleinen begehbaren Wäschekammer zwischen der Toilette und dem Zimmer von Silva Scheuermann.
    Der kleine Raum war durch einen Vorhang abgetrennt, der halb aufgezogen war. Zwischen der Gardine und einem Regal konnte er grade eben stehen. Die Plastiktüte mit den Aquarellen hielt er sich dicht vor die Brust gedrückt. In den Borden waren Bettwäsche und Handtücher gestapelt, eine ganze Batterie von Reinigungsmitteln, Bügelsprays oder Ähnlichem und bestimmt hundert Rollen Klopapier. Frau Boysen hatte bemerkenswerte Vorräte angelegt.
    »Ich durchsuch doch nicht das Gepäck meiner Gäste!«, protestierte Meret Boysen. »Aber der Kleiderschrank |241| war immer abgeschlossen. Und den Schlüssel muss er wohl immer mitgenommen haben. Ist doch komisch. Als wenn er was verstecken will.«
    »Frau Boysen, wenn Herr Heide

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