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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ihre Klamotten, die sich in dem Gehölz verfangen hatten, schienen den leblos wirkenden Körper am weiteren Fallen zu hindern.
    Jetzt sah er, was passiert war. In der Nähe des Austritts war eigentlich nur ein Bodenblech herausgenommen worden, gleich links. Da musste sie heruntergestürzt sein. Rechts dagegen waren die Platten noch montiert. Deshalb war ihr die Lücke wahrscheinlich nicht aufgefallen.
    Er suchte die Umgebung ab, ob irgendjemand in der Nähe war, der den Sturz beobachtet haben könnte. Es war absolut niemand in Sicht. Nur ein paar Möwen, die um den Turm herum in Richtung Dünen segelten.
    In dem Moment knarrte und splitterte es noch einmal in dem Baum unter ihm. Silvas Körper rutschte noch etwas weiter, um dann endgültig auf dem Boden aufzuschlagen. Fast vorwurfsvoll starrte ihr bleiches Gesicht zu Harry hinauf. An einem abgebrochenen |257| toten Ast wehte, wie eine vom Sturm zerfranste Piratenfahne, ein Fetzen des bunten Karibikstoffes aus Silva Scheuermanns Shirt.
    Harry stürmte die Wendeltreppe hinunter und zum Ausgang hinaus. Da lag sie. Ihre Klamotten waren auf einer Seite völlig zerrissen. Aber sonst sah sie eigentlich aus wie immer. Selbst ihre rötlich schillernde Brille war ganz geblieben, durch die sie ihn immer noch mit diesem unverfrorenen Blick musterte, der Harry so auf die Nerven gegangen war. Die Augen konnte er ihr nicht schließen. Er horchte nach ihrem Atem. Dann tastete er am Hals nach dem Puls. Die Neckermann-Tüte legte er dabei kurz aus der Hand. Zuerst glaubte er etwas zu fühlen. Aber es war sein eigener Puls. Nein, Silva Scheuermann-Heinrich würde nicht mehr mit ihm auf Weltreise gehen.
    Es war kein einziger Blutstropfen zu sehen, obwohl der Körper hart auf den Steinplatten aufgeschlagen sein musste. Nur die Holzperlen aus ihren Haaren kullerten kunterbunt durcheinander über die Betonplatten. Kurz und schmerzlos, so ein Sturz vom Leuchtturm, dachte sich Harry. Sicherlich angenehmer, als in der stürmischen Nordsee jämmerlich abzusaufen.
    Er überlegte, ob er die tote Silva wegschaffen sollte. Ein Leiche direkt vor dem Eingang des Leuchtturms würde wahrscheinlich schnell entdeckt werden. Selbst in der Nebensaison. Ganz sicher würde die Polizei, nach allem, was passiert war, ihren Tod sofort mit ihm in Verbindung bringen. Aber wohin mit ihr? In einen der großen Müllcontainer beim nahe gelegenen FK K-Zeltplatz vielleicht oder einfach in die Dünen?
    |258| Während er neben der toten Silva hockte, segelte eine große Möwe aus den Dünen zu ihnen herüber und ließ sich einen Meter von Silvas Kopf entfernt nieder. Es war eine unglaublich große, fette Möwe, die sich vertraulich zu ihnen setzte. Sie legte den Kopf schief und sah Harry fragend an, wie ein Hund, der darauf wartete, dass Herrchen einen Stock warf. Wenn sie am Strand und in den Dünen über einen hinwegflogen, sahen sie so groß gar nicht aus, dachte Harry. Aber diese Möwe war vielleicht auch ein besonders großes Exemplar. Sie stolzierte einmal um Silvas Kopf herum, pickte kurz und heftig auf eine der bunten Holzperlen ein. Dann blieb sie auf ihrem angestammten Platz stehen. Sie sperrte einmal ihren großen gelben Schnabel weit auf, ohne einen Ton von sich zu geben. Harry und die Möwe sahen sich an. Irgendwie kam es ihm vor, als signalisierte sie ihm stille Komplizenschaft. Als wolle sie sagen: Ich weiß, was passiert ist. Aber ich kann dichthalten. Du hast eigentlich keine Schuld.
    Von seinem Plan, die tote Silva irgendwie in Deckung zu bringen, nahm er gleich wieder Abstand. Falls ihn jemand beobachtete, wenn er die Leiche in die Dünen oder in Richtung Campingplatz verfrachtete, wäre er geliefert. Womöglich hinterließ er dabei noch irgendwelche Spuren. Dann musste Silva Scheuermann eben mal eine Weile auf dem Leuchtturmvorplatz liegen bleiben. Vielleicht blieb sie ja doch erst mal unentdeckt. In einer Stunde würde er auf der Fähre sitzen. Langsam wurde die Zeit knapp, wenn er vorher noch seinen Nolde an sich bringen wollte.
    |259| Die Möwe hat recht, dachte Harry. »Ich hab sie schließlich nicht vom Turm heruntergestoßen«, sagte er zu sich selbst. »Nein, das hat diese dumme Kuh ganz allein hinbekommen.«

21
    »Ich weiß gar nicht, warum du dein altes Leben versteckst«, sagt Zoe. »Du hast nette Freunde in Deutschland.« Ihr hat der Besuch bei Maja auf Sylt offensichtlich gefallen. Und Harry hat es auch gefreut, sie wiederzusehen. Aber vor allem hat ihn beruhigt, was er über die

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