Flucht vor den Desperados
Reverend Emmet Jones und seiner Frau Evangeline aus Temperance in der Nähe von Como erreichten uns am gestrigen Abend. Gewisse Zeugen sagen aus, das Paar sei von Paiute-Indianern aus der Gegend umgebracht worden, aber diese Behauptung konnte bis jetzt nicht bestätigt werden. Vergeltungsmaßnahmen wären also unklug. Geraten Sie nicht in Panik! Der zwölfjährige Adoptivsohn des Paares gilt seit der Zeit der Morde als vermisst. Er hört auf den Namen P. K. oder »Pinky« Pinkerton und ist der Hauptverdächtige. Es wird angenommen, dass er den gutherzigen Menschen, die ihn aufgenommen und aufgezogen haben, ein Dokument von großem Wert gestohlen hat. Der Junge ist eineinhalb Meter groß, hat kurze schwarze Haare, dunkelbrauneAugen und eine dunkle Gesichtsfarbe, da es sich bei ihm um einen Halbindianer handelt. Falls Sie ihn sehen sollten, bringen Sie ihn zum Büro des Marshals, da er zum Verhör gesucht wird. Vorsicht ist angebracht. Er könnte bewaffnet und gefährlich sein.
»Wer hat das geschrieben?«, fragte ich.
»Dan De Quille.«
»Er stellt es so dar, als hätte ich meine Pflegeeltern ausgeraubt und ermordet. Er erwähnt Walt, den Schnitzer, und seine Kumpane überhaupt nicht.«
»Der Artikel ist dazu gedacht, Walt und seine Kumpane in Sicherheit zu wiegen und nicht aufzuregen. Dan ist letzte Nacht noch im Saloon vorbeigekommen, um uns zu erzählen, was passiert ist.« Sam Clemens zündete ein Streichholz an und versuchte seine übel riechende Pfeife in Gang zu bringen. »Er war in einem schrecklichen Zustand. Dan glaubt, Walt wird an ihm herumschnitzen, weil er so getan hat, als wärst du seine Tochter. Dan wollte die frühe Postkutsche nach Carson City nehmen.«
Ich sagte: »Es tut mir leid, dass er meinetwegen auf der Flucht ist, aber das gibt ihm noch nicht das Recht, so eine Geschichte zu erfinden und die Leute dazu aufzurufen, mich auszuliefern.«
»Das mit dem Ausliefern hat er nur geschrieben, weil er glaubt, du wärst im Gefängnis am sichersten. Er hat dem Marshal erzählt, was wirklich passiert ist. Du darfst nicht zu hart ins Gericht gehen mit dem alten Dan.«
Sam hatte endlich seine Pfeife in Gang gebracht & sagte zwischen einzelnen Zügen: »Er hat auch gesagt, wir sollten dir ausrichten, er hätte dir den falschen Rat gegeben,als er meinte, du solltest mit deinem Brief zum Recorder’s Office gehen. Er sagt, du müsstest damit erst zum amtlichen Notar.«
»Was ist ein amtlicher Notar?«, fragte ich.
»Ein Mann, der auf deine Dokumente seinen Stempel setzen wird, um sie zu beglaubigen und rechtskräftig zu machen.«
Ich ging zum Fenster zurück und schaute zu Walt und seinen Kumpanen hinaus. Sie schienen sich dort für den gesamten Tag eingerichtet zu haben.
»Wollen Sie damit sagen, dass ich gar nicht zum Recorder’s Office auf der Straße gegenüber gehen muss? Ich könnte den Brief beim Notar als mein Eigentum registrieren lassen?«
Sam Clemens zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe nichts von solchen Sachen«, sagte er. »Aber ja: Ich glaube, genau das hat Dan gemeint.«
KONTOBUCHBLATT 31
Gerade als alles komplett düster aussah, glomm in meinem Herzen ein neuer Hoffnungsfunken auf.
Ich drehte mich um und deutete auf die Hintertür. »Kann man durch die Tür hinauskommen oder führt die nur zum Lokus?«
»Wenn’s dir nichts ausmacht, dich am Müllhaufen und an Old Joes Hühnerhof vorbeizuquetschen, kommst du auch da raus«, sagte Sam Clemens.
»Wissen Sie, wo der Notar seinen Sitz hat?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete er. »Aber es gibt hier ein Adressbuch von Virginia. Ich erkläre dir, wo du langgehen musst.« Er ging zu einem Schreibtisch, schlug ein Buch auf und sagte einen Augenblick später: »Hier ist es: W. Hutchins, Amtlicher Notar für Storey County, Nevada-Territorium, B Street, gegenüber vom Virginia City Hotel. Und laut diesem Plan«, er blätterte einige weitere Seiten um, »befindet sich das Virginia City Hotel an der südwestlichen Ecke B Street und Sutton. Ich nehme an, es ist nicht weit vom International Hotel.«Er schloss das Buch. »Nur ein Katzensprung. Komm hier rüber, P. K.«, sagte er. »Schau dir das an.«
Er deutete auf das gerahmte Panoramabild von Virginia City.
Am vergangenen Abend war es schummrig gewesen, aber jetzt konnte ich das Bild besser erkennen. Es zeigte Virginia City, wie es ein von Süden darüber hinwegfliegender Vogel gesehen hätte. Die Spitze des Berges ragte links auf, und von dort aus neigte
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