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Flucht vor den Desperados

Flucht vor den Desperados

Titel: Flucht vor den Desperados Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Lawrence
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Minenleute gleich aus. Und ich habe Schwierigkeiten, die Celestials auseinanderzuhalten. Auch Indianer sind schwer zu unterscheiden. Deshalb ist es gut, sich die Ohren der Menschen anzuschauen – genau wie ihre Gesichter.«
    »Leben Sie hier in Virginia?«, fragte ich.
    »Nein«, sagte er. »Ich lebe in San Francisco. Ich komme bloß ein, zwei Mal pro Jahr hierher, um den Kopf freizubekommen und meine Stadtansichten auf den neusten Stand zu bringen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr die Stadt Virginia in nur einem Jahr gewachsen ist.«
    Ich sagte: »Sind Sie jemals in Chicago gewesen?«
    »Einmal«, sagte er. »Es war sehr kalt dort, und der Wind war heftig. Kommst du von dort?«
    »Nein«, erwiderte ich. »Aber ich hoffe, eines Tages dorthin zu fahren.«
    »Du solltest nach San Francisco kommen«, sagte er. »Das ist wirklich eine feine Stadt. Ganz ähnlich wie diesehier im Grunde, aber statt der Wüste hat sie den Ozean. Und schönes mildes Wetter.«
    In der kurzen Zeit unseres Gesprächs hatte der Wind aufgefrischt & begonnen, uns Steinchen und Beifußblätter ins Gesicht zu wehen.
    »Da ist die Washoe-Brise«, sagte Grafton T. Brown. »Das heißt, Schluss für heute mit meinen Skizzen.« Er steckte sich den Bleistift in die Jackentasche & klappte seinen Zeichenblock zu.
    Der Wind heulte & zerrte an unseren Hüten.
    Als wir den Hang hinabgingen, sagte ich: »Dieser Wind ist wirklich stark. Wie haben Sie ihn genannt?«
    Er sagte: »Man nennt ihn die Washoe-Brise. Sie ist dafür berüchtigt, Dächer und sogar ganze Gebäude fortzureißen.«
    Ich sagte: »Bei uns zu Hause ist eine Brise ein leichtes Lüftchen. Das hier ist ja schon eher ein Sturm.«
    Grafton T. Brown lächelte. »Typischer Virginia-City-Humor«, sagte er, zog den Kopf zwischen die Schultern und stellte seinen Jackenkragen hoch. »Es ist ein verdrehtes Völkchen. Einen kreischenden Esel nennen sie Washoe-Nachtigall und einen Sturm wie diesen eine Brise. Für die Kirche am Sonntag hören sie mit dem Silberschürfen nicht auf, aber für die Beerdigung von diesem armen ermordeten Hurdy Girl lassen sie alles stehen und liegen.«
    »Hurdy Girl?«, fragte ich. Ich blieb stehen und er auch.
    »Hurdy Girls«, sagte Grafton T. Brown, »nennen sie die Mädchen, die unten auf der D Street leben. Eine gefallene Taube.«
    Einen schrecklichen Moment lang glaubte ich, er meinteBelle. Aber ich hatte sie ja vor nicht einmal einer Stunde an Isaiah Coffin gefesselt zurückgelassen und in dessen Studio eingeschlossen.
    »Wie hieß dieses ermordete Hurdy Girl?«, fragte ich.
    »Ihr Name war Sally Sampson. Die Leute nannten sie Short Sally. Ihr ist von einem Ohr zum anderen die Kehle aufgeschlitzt worden.«
    »Wer hat das getan?«, fragte ich. Mein Hals war trocken.
    »Weiß man nicht«, sagte er.
    Mir war schlecht. Was, wenn Walt und seine Kumpane Short Sally für Belle gehalten hatten? Es waren eiskalte Killer, die vor nichts haltmachen würden.
    Der Wind warf sich mir in den Rücken, als wolle er mich zurück in die Stadt drängen.
    Was hatte ich mich auch an den Hängen des Mount Davidson herumzutreiben?
    Ich musste meinen Brief beim Notar abgeben – so schnell ich konnte.

KONTOBUCHBLATT 32

    Ich hatte dem Künstler noch nicht einmal Auf Wiedersehen gesagt, da begann ich schon, den Berg hinabzurennen.
    Bald fand ich mich in der Nähe des Platzes wieder, an dem der Schutt abgeladen worden war. Ich konnte mich an der Kante einer vorspringenden Stelle gerade noch abbremsen. Der Grund fiel hier steil ab. Da der Boden noch immer feucht von dem tauenden Schnee war, wäre ich fast hinabgestürzt. Als ich nach unten blickte, sah ich Schutt & Gesteinsbrocken & verrottete Holzteile aufgeschüttet übereinanderliegen. Das waren keine Tailings. Tailings waren ganz glatte & spitze Haufen, wie Ameisenhaufen, weil sie aus dem feinen Staub bestanden, der aus den Quartz Stamp Mills herauskam.
    Dies war eine Müllhalde: ganz uneben & nicht stabil. Hier hatte der Wagen den Schutt aus den Schächten und Tunneln abgeladen.
    Ich hätte darum herumgehen sollen, aber ich war so ungeduldig und wollte so schnell wie möglich hinunter zum Notar an der Ostseite der B Street und hinter dem InternationalHotel. Der heulende Wind hatte mir ein neues Gefühl von Dringlichkeit vermittelt. Es war wie ein böses Vorzeichen.
    Ich sprang hinunter auf die Spitze des Schutthaufens und begann darüber zu klettern. Ein, zwei Mal wäre ich beinahe gestürzt, weil sich unter meinen Füßen ein Stein

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