Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flucht vor den Desperados

Flucht vor den Desperados

Titel: Flucht vor den Desperados Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Lawrence
Vom Netzwerk:
Richtung Norden führte, dann die Carson hinunter bis zur B Street und dann wieder ein Stück zurück.
    Ich atmete tief die dünne Luft ein, hob den Blick & schaute mir die gewaltige Aussicht an. Die Sonne war warm, die Luft trug den Duft von Salbei, & ich fühlte das beruhigende Klopfen des Berges.
    Ich dachte: Am glücklichsten bin ich immer, wenn ich alleine bin.
    Dann dachte ich: Heißt das, ich bin ein herzloser Außenseiter?
    Ich atmete noch einmal tief ein & machte mich dann Richtung Carson Street auf.
    Als ich ein dumpfes Rumpeln hörte, schaute ich mich um.
    Unter mir hatte ein Minenwagen eine Ladung Schutt & Gestein & anderen Müll abgeladen. Irgendwo tief in den Eingeweiden des Berges gruben Männer wie Maulwürfe. Der Wagen schien über einer Klippe frei in der Luft zu schweben, aber als sich der Staub gelegt hatte, konnte ich sehen, dass er am Ende eines Schienenstrangs gehalten hatte. Dieser wurde von einem Gerüst gestützt, das aussah wie eine halbe Brücke. Jetzt zog ein Minenarbeiter Wagen auf demselben Weg, auf dem er gekommen war, zurück. Ich bemerkte, dass die Schienen wieder in eine Öffnung im Berghang führten.
    »Siehst du, wie der Mensch bei seiner Suche nach Reichtum Wunden in den Berg schlägt?«, sagte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah einen Schwarzen auf einem Klappstuhl sitzen. Er zeichnete. Ein gezackter, aufragender Felsen hatte ihn bis jetzt vor meinem Blick verborgen.
    »Überall Löcher, Gruben und Schutthalden«, sagte der Schwarze. »Manche Menschen glauben, das spiele keine Rolle. Sie sagen, dieses Fleckchen Erde sei sowieso hässlich.« Er fuhr mit seinem Bleistift durch die Luft. »Ich sehe dagegen eine seltsame Schönheit in diesem unfruchtbaren Berg.«
    »Ich mag die Wüste«, sagte ich. »Ich mag sie sehr.«
    »Ich mag sie auch.«
    Ich war noch nie einem Schwarzen so nahe gekommen, dass ich mit ihm reden konnte. Seine Wangen waren weich, & ich nahm an, dass er nicht viel älter als zwanzig war.
    »Sind Sie ein entflohener Sklave?«, fragte ich.
    Er lachte. »Nein«, sagte er. »Ich bin frei geboren. In Philadelphia.«
    Ich kam näher heran & sah, dass er eine Zeichnung von Virginia City anfertigte. Sein Zeichenstil kam mir bekannt vor. Ich schaute wieder zu ihm auf. »Sind Sie Grafton T. Brown?«, fragte ich.
    Seine Augen öffneten sich weit für Gesichtsausdruck Nr. 4: Erstaunen.
    »Allerdings, der bin ich«, sagte er. »Kennen wir uns?«
    Ich sagte: »Bis jetzt noch nicht, aber ich habe mir gerade erst ihr Panoramabild von Virginia City in der Redaktion der
Territorial Enterprise
angeschaut. Ich glaube, das ist die beste Zeichnung, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.«
    Er zeigte ebenmäßige weiße Zähne in einem aufrichtigen Lächeln: Nr. 1.
    »Und du hast dir meinen Namen gemerkt?«
    »Ich kann mir Namen gut merken«, sagte ich. »Dafür keine Gesichter.«
    Er nickte und legte seinen Bleistift ab. »Ich habe dasselbe Problem, ob du’s glaubst oder nicht. Aber ich habe einen Trick«, sagte er. »Einen Trick, wie man die Leute auseinanderhalten kann.«
    »Den Trick würd ich gerne kennen«, antwortete ich.
    »Mein Trick sind die Ohren.«
    »Ohren?«, wiederholte ich.
    Grafton T. Brown nickte. »Wenn du die Leute nicht auseinanderhalten kannst, schau dir einfach ihre Ohren an. Das Ohr eines Menschen ist ganz speziell.«
    Ich sagte: »Da haben Sie leicht reden. Sie sind ein Künstler.«
    »Jeder kann das«, sagte er. »Du musst bloß das Hinschauen üben. Du zum Beispiel hast ein ziemlich feines Ohr. Es hat ein flaches, eckiges Ohrläppchen & einen weichen Knorpel. Das Läppchen ist der Teil, den sich die Frauen für ihre Ohrringe durchstechen«, fügte er hinzu, »und der Knorpel ist der geschwungene Teil über dem Ohrloch. Siehst du irgendetwas Spezielles an meinen Ohren?«
    Ich musterte sein linkes Ohr & sagte: »Ihre Ohren sind ziemlich rund und klein für Ihren Kopf. Und auch Ihr Ohrläppchen ist abgerundet.«
    »Gut.« Er kniff sich mit Daumen und Zeigefinger ins Ohrläppchen. »Würdest du sagen, es ist dick oder dünn oder dazwischen?«
    »Dick«, sagte ich. »Aber Sie wiederzuerkennen wird für mich sowieso kein Problem sein. Sie sind so ziemlich der einzige Schwarze, dem ich hier begegnet bin.«
    »Du wärst überrascht«, sagte er, »wie viele es von uns hier in Virginia gibt.« Wieder zeigte er mit einem Lächeln seine Zähne. »Die Weißen behaupten, wir würden alle gleich aussehen, aber für mich sehen all diese bärtigen

Weitere Kostenlose Bücher