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Flucht vor den Desperados

Flucht vor den Desperados

Titel: Flucht vor den Desperados Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Lawrence
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er sich sanft zur unteren rechten Bildhälfte hinunter, wobei fünf oder sechs Straßen den Hang wie Treppen hinaufführten. Um diese beeindruckende Szenerie herum hatte der Künstler einen Rahmen aus kleinen Einzelbildern gestaltet, die etwa 30 Gebäude zeigten. Sie waren von vorn zu sehen und nicht aus der Vogelperspektive.
    »Was sind das für kleine Gebäude um das Bild herum?«, fragte ich.
    »Dan sagt, das seien einige von Virginias Sehenswürdigkeiten. Da sind wir, genau da.«
    Ich war baff vor Bewunderung. Eines der Gebäude war die
Territorial Enterprise
. Das Schild war darauf zu sehen und die zwei Flaggen und die Tür, auf der PONY EX-PRESS EXTRA stand. Es gab sogar einen Jungen etwa in meinem Alter, der einem Gentleman mit Zylinder eine Zeitung verkaufte.
    »Schauen Sie«, sagte ich. »Da ist der braune Hund vor Fultons Fleischmarkt. Und da ist der Haushaltswarenladen mit dem Herd und den Kaffeekannen auf dem Dach.«
    »Und da ist meine liebste Sehenswürdigkeit«, sagte Sam Clemens. »Pipers Old Corner Saloon. Gutes Bild, oder?«
    »Ja«, antwortete ich & ging ganz dicht mit der Nase heran, um es zu bewundern.
    Ein Schriftzug ganz unten gab an:
Virginia City; Nevada-Territorium, 1861. Künstler: Grafton T. Brown.
    Auch wenn die Stadt im letzten Jahr erheblich gewachsen war, hatten sich viele Gebäude nicht verändert. Ich erkannte die Spitze der Kirche auf der D Street, die Koppeln des Mietstalls & die Schornsteine der Minengebäude. Ich sah, wie die Straßen am Hang des Mount Davidson angelegt worden waren. Ich konnte die Straßen A bis D ganz klar erkennen, ebenso einige verstreute Minenbauten.
    »Dein Notar dürfte sich etwa hier befinden«, sagte Sam Clemens und klopfte mit dem Stiel seiner Pfeife über der B Street gegen das Glas.
    Ich sagte: »Vielleicht kann ich diesen Weg nehmen.« Mit dem Finger fuhr ich eine mögliche Route ab.
    »Warum gehst du nicht direkt die Sutton herunter und biegst rechts ein?«, fragte er.
    Ich marschierte zum Fenster hinüber und schaute hinaus. »Erst einmal, weil die Sutton ein einziger rutschiger Fluss aus Matsch ist. Zweitens, weil Walt und seine Kumpane auf der anderen Straßenseite auf mich warten.«
    Er kam herüber und schaute über meine Schulter. »Verflixt und zugenäht«, sagte er. »Da sind sie also. Vielleicht geh ich auch hinten raus. Ich hatte eigentlich vor, gemütlich zur C Street hinunterzuschlendern, um mir einen vernünftigen Anzug zu besorgen. Kleider machen Leute, weißt du? Nackte haben heutzutage ja nur wenig oder gar keinen gesellschaftlichen Einfluss.«
    Ich nickte abwesend. Ich überlegte mir den besten Weg.
    Sam Clemens ging zum Hutständer hinüber. Zwei Schlapphüte hingen dort. Einen Moment lang kreiste seine Hand über einem alten, der vollkommen mit hellgelbem Staub bedeckt war. Dann entschied er sich für den anderen. Er sah neuer aus und hatte die Farbe von Kaffee. Er setzte ihn auf und ging zur Hintertür. Als er sie erreicht hatte, drehte er sich um & fragte: »Möchtest du, dass ich dich bis zum Notar begleite?«
    Ich wollte gerade zustimmen, aber dann erinnerte ich mich an die Lektion, die ich von Virginia City gelehrt bekommen hatte: Vertraue niemandem.
    »Nein danke«, sagte ich. »Ich gehe allein.«
    »Ganz wie’s dir beliebt«, erwiderte er. »Ich wünsche dir viel Glück. Ich hoffe, wenn wir uns das nächste Mal begegnen, erkenne ich dich. Aber wenn nicht, ist das keine Unhöflichkeit – bloß Dummheit.«
    »Gilt für mich ebenso«, sagte ich.
    Er grinste, tippte sich an den Schlapphut & ging hinaus.
    Ich wartete ein Weilchen und ging dann ebenfalls zur Hintertür.
    Ich öffnete sie einen Spalt und spähte hinaus.
    Ich sah das Lokushäuschen & den Hühnerhof & eine Stelle, an der Müll verbrannt wurde, & den aufsteigenden Berghang.
    Dann trat ich in den strahlenden Morgen hinaus und schaute mich vorsichtig um. Außer einigen Hühnern war niemand hier.
    Irgendwo oben am Berghang hörte ich, wie eine Wachtel »Chicago! Chicago!« rief.
    Ich dachte: Bald bin ich unterwegs dorthin.
    Ich suchte mir einen Weg durch die Müllhalde und die Beifußsträucher und stieg den Berg hinauf.
    Bald erreichte ich die Straße über der A Street. Es war weniger eine Straße als ein matschiger Pfad. Von hier aus konnte ich ein großes weißes Gebäude mit einem hohen Schornstein und einem Schild darauf sehen, auf dem MEXIKO MINE stand. Als ich mich umdrehte und auf die Stadt hinunterblickte, sah ich, dass der beste Weg einen Block weiter

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