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Flüchtig!

Flüchtig!

Titel: Flüchtig! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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vorzuwerfen; dennoch wurde ich von Schuldgefühlen geplagt.

16
    Houten telefonierte so, daß ich nicht mithören konnte. Zehn Minuten später tauchte ein Mann in Hemdsärmeln auf. Der Sheriff ging auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.
    »Ich danke Ihnen, daß Sie so schnell gekommen sind, Ezra.«
    »Ich helfe gern, wenn ich kann, Sheriff.« Die Stimme des Mannes war weich, sein Tonfall angenehm und gelassen.
    Dem Aussehen nach war er Ende Vierzig, mittelgroß, aber mager, mit der leicht gebückten Haltung des Gelehrten. Alles an ihm wirkte solide und ordentlich. Den kleinen Kopf bedeckte spärliches salz-und-pfeffergraues Haar, das glatt nach hinten gekämmt war. Die Ohren wirkten koboldhaft und lagen dicht am Schädel an. Seine Gesichtszüge waren gleichmäßig, aber zu fein, als daß man sie als schön hätte bezeichnen können. Sein Hemd war blütenweiß und wies trotz der Hitze keine Falten auf. Seine Khakihose schien direkt aus der Reinigung zu kommen. Er trug eine randlose Brille mit achteckigen Gläsern auf der Nase; das Etui dazu steckte in der Brusttasche seines Hemds. Er sah aus wie ein Mensch, der nie ins Schwitzen geriet.
    Ich stand auf, während er mich mit Zurückhaltung betrachtete.
    »Ezra«, sagte Houten, »das ist Doktor Delaware, ein Psychologe aus Los Angeles. Er ist gekommen, um den Häftling abzuholen, von dem ich dir erzählt habe. Doktor, ich darf Sie mit Mr. Ezra Maimon, dem besten Anwalt am Platze, bekannt machen.«
    Der ordentliche Mann lachte höflich.
    »Der Sheriff übertreibt ein wenig«, sagte er und streckte mir seine schwielige Hand entgegen. »Ich bin der einzige Anwalt am Platze, und das, was ich normalerweise bearbeite, ist aus Holz.«
    »Ezra besitzt am Stadtrand eine Plantage für exotische Früchte«, erklärte Houten. »Er behauptet zwar, er hätte sich aus Amt und Würden zurückgezogen, aber wir kriegen ihn doch von Zeit zu Zeit dazu, daß er uns seine Fähigkeiten als Anwalt zur Verfügung stellt.«
    »Testamente und Besitzübertragungen, also verhältnismäßig einfache Angelegenheiten«, sagte Maimon. »Wenn sich Ihr Fall zu einer Strafverteidigung auswachsen sollte, müßten Sie sich einen Spezialisten besorgen.«
    »Schon gut.« Houten zwirbelte seine Schnurrbartspitzen. »Es ist kein Fall für die Strafverteidigung. Noch nicht. Aber es ist für uns doch ein kleines Problem, wie ich Ihnen schon am Telefon sagte.«
    Maimon nickte. »Dann sollten Sie mich über die Einzelheiten informieren«, sagte er.
    Danach hörte er schweigend und gelassen zu, lächelte mich zwischendurch ein paarmal an, und als Houten mit seinem Bericht fertig war, legte der Anwalt einen Finger auf die Lippen, richtete die Augen zur Decke und tat so, als übe er sich im Kopfrechnen. Nach einer Minute schweigender Meditation sagte er: »Ich möchte erst einmal meinen Mandaten sprechen.«
    Er verbrachte eine halbe Stunde in der Zelle. Ich versuchte die Zeit totzuschlagen und las eine Zeitschrift für die Männer der Straßenwacht, bis ich feststellte, daß sich das Blatt auf Fotoreportagen über besonders schreckliche Verkehrsunfälle spezialisiert hatte, begleitet von detaillierten Beschreibungen der einzelnen Horrorereignisse. Ich konnte mir nicht erklären, wie Männer, die das Gemetzel auf den Straßen als Teil ihrer täglichen Routinearbeit erlebten, auch noch von fotografischen Reprisen darüber angesprochen wurden. Aber vielleicht schuf gerade so etwas den nötigen Abstand - der Trost des Voyeurs. Ich legte die Zeitschrift weg und schaute statt dessen W. Bragdon zu, der einen Artikel über Sojakultur las und dabei an seinen Nagelhäuten zupfte.
    Endlich ertönte ein Summer.
    »Geh hinein und hol ihn, Walt«, befahl Houten.
    Bragdon sagte: »Jawohl, Sir«, ging und kam mit Maimon zurück.
    »Ich glaube«, erklärte der Anwalt, »daß wir zu einem Kompromiß gelangen können.«
    »Erzählen Sie, Ezra.«
    Wir setzten uns zu dritt an einen der Schreibtische.
    »Doktor Melendez-Lynch ist ein sehr intelligenter Mann«, begann Maimon. »Vielleicht ein wenig störrisch. Aber meiner Meinung nach alles andere als böswillig.«
    »Für uns hier ist er immerhin mehr als lästig, Ezra.«
    »Er war vielleicht etwas übereifrig, was die Versuche seiner ärztlichen Pflicht nachzukommen, betrifft. Aber wie wir alle wissen, ist Woody tatsächlich todkrank. Doktor Melendez-Lynch ist davon überzeugt, daß er den Jungen kurieren könnte, und alles, was er tut, sieht er als einen Versuch, unseren kleinen Woody vor dem

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