Flüchtig!
hinzufahren«, fuhr im Raoul über den Mund.
»Doktor Lynch…«
»Mein Name lautet Melendez-Lynch, und wenn Sie das auch noch so oft und absichtlich vergessen, schüchtert mich das nicht im geringsten ein. Ich bleibe hier, bis die Wahrheit ans Tageslicht gekommen ist.«
»Doktor, Sie befinden sich möglicherweise in großen Schwierigkeiten. Ich bin bereit, Sie mit einer Geldstrafe davonkommen zu lassen, weil ich die Dinge für uns alle nicht unnötig komplizieren möchte. Ich bin sicher, daß Sie unter starkem Druck gestanden haben und…«
»Ich lasse mich von Ihnen nicht gönnerhaft behandeln, Sheriff. Und hören Sie endlich auf damit, sich vor diese mörderischen Quacksalber zu stellen.«
»Raoul…«, sagte ich.
»Nein, Alex, das verstehst du nicht. Die Menschen hier sind sture, unwissende Idioten. Der Baum des Wissens könnte auf ihrer Schwelle sprießen, und sie wären nicht imstande, seine Früchte zu sammeln.«
Houten bewegte die Kiefer, als zerkaute er eine Geduldspille.
»Ich bestehe darauf, daß Sie unsere Stadt verlassen«, sagte er leise.
»Und ich denke nicht daran«, widersprach ihm Raoul und hielt sich mit beiden Händen an der Pritsche fest, um seine Entschlossenheit zu demonstrieren.
»Sheriff«, sagte ich, »bitte, lassen Sie mich mit ihm unter vier Augen sprechen.«
Houten zuckte mit den Schultern, verließ die Zelle und sperrte ab.
Dann ging er weg. Nachdem ich gehört hatte, wie sich draußen die Eisentür geschlossen hatte, wandte ich mich an Raoul.
»Was, zum Teufel, ist in dich gefahren?«
»Komm mir jetzt nicht mit einer Lektion, Alex.« Er stand auf und hielt mir seine Faust vor die Nase.
Ich trat instinktiv einen Schritt zurück. Er starrte auf seine erhobene Hand, ließ sie sinken und murmelte eine Entschuldigung. Dann hockte er sich wieder auf die Pritsche und lehnte sich zurück.
»Was, um alles in der Welt, hat dich gepackt, daß du dich hier zu einer Ein-Mann-Invasion hast hinreißen lassen?« fragte ich ihn.
»Ich weiß intuitiv, daß sie da sind«, keuchte er erschöpft. »Hinter diesen Klostermauern. Ich fühle es!«
»Und wegen dieser Intuition hast du deinen Volvo als Panzerwagen benutzt? Erinnerst du dich noch daran, daß du Intuitionen als ›eine andere Form von schwachköpfigem Hokuspokus‹ bezeichnet hast?«
»Das ist etwas anderes. Sie wollten mich nicht einlassen. Wenn das kein Beweis dafür ist, daß sie etwas verstecken, dann weiß ich wirklich nicht!« Er schlug mit der Faust gegen die Fläche der anderen Hand.
»Aber ich komme irgendwie hinein, und dann kehre ich dort das unterste zuoberst, bis ich ihn gefunden habe.«
»Das ist doch verrückt. Wie ist es bloß möglich, daß dich das, was mit den Swopes geschehen ist, in einen verdammten Cowboy verwandelt hat?«
Er bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Ich setzte mich neben ihn und legte ihm den Arm um die Schultern. Sein Hemd war völlig naßgeschwitzt.
»Komm, laß uns weggehen von hier«, beschwor ich ihn.
»Alex«, sagte er mit rauher Stimme, und sein Mundgeruch war stark und säuerlich, »die Onkologie ist ein Fach für diejenigen, die bereit sind, zu lernen, wie man mit Anstand verliert. Nicht, daß sie das Scheitern lieben oder akzeptieren, aber sie verstehen es, mit Würde zu leiden, genau wie ihre Patienten. Hast du gewußt, daß ich in meinem Semester stets der erste gewesen bin?«
»Es überrascht mich nicht.«
»Ich konnte mir danach meine Stellung aussuchen. Wir Krebsforscher sind die Creme der Medizinischen Wissenschaft. Und dennoch sehen wir uns Tag für Tag mit dem eigenen Versagen konfrontiert.«
Er stieß sich hoch und ging zu den Gitterstangen, ließ die Hände darübergleiten.
»Versagen, ja«, wiederholte er. »Aber dafür sind die Siege dann auch ungewöhnlich schön. Die Rettung, die Rekonstruktion eines Lebens.
Gibt es etwas anderes, das geeignet wäre, eine solche Illusion der Allmacht hervorzurufen, Alex?«
»Und es wird immer mehr Siege geben«, versicherte ich ihm. »Du weißt das besser als jeder andere. Erinnere dich an die Rede, die du vor den Geldgebern und Sponsoren gehalten hast, an die Dia-Schau mit den Fotos geheilter Kinder. Laß diesen einen Jungen in Frieden ruhen.« Er wirbelte herum und schaute mich mit glühenden Augen an.
»Soviel ich weiß, lebt der Junge noch. Erst wenn ich seinen Leichnam gesehen habe, mit eigenen Augen, bin ich bereit, zu glauben, daß er tot ist.«
Ich wollte etwas erwidern, aber er schnitt mir das Wort ab.
»Ich
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