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Flüchtig!

Flüchtig!

Titel: Flüchtig! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Tag, als die Sekte hier eintraf und das Kloster bezog, war buchstäblich der Teufel los; jeder gaffte und zeigte mit Fingern auf die Fremden. An diesem Tag bin ich zu ihnen gegangen und habe mit Mr. Matthias gesprochen; dabei habe ich ihm sozusagen eine Lektion in Soziologie erteilt. Ich sagte ihm, daß sie sehr gut beraten seien, wenn sie sich so unauffällig wie möglich betragen, die ortsansässigen Geschäfte in Anspruch nehmen und den kirchlichen und sonstigen Hilfsorganisationen gelegentlich Spenden übermitteln.«
    Es war genau die Strategie, die mir Seth Fiacre beschrieben hatte.
    »Sie sind jetzt drei Jahre hier und habe noch nicht mal einen Strafzettel wegen falschen Parkens bekommen. Die Leute haben sich an sie gewöhnt. Ich schaue dort vorbei, wann immer es mir gefällt, damit jeder weiß, daß hinter dem Tor keine Hexerei stattfindet. Sicher, sie sind noch genauso sonderbar wie vor drei Jahren, als sie hierhergekommen sind. Aber das ist alles. Seltsam, aber nicht kriminell. Wenn Verstöße gegen das Gesetz begangen würden, müßte ich das wissen.«
    »Besteht vielleicht die Möglichkeit, daß sich Woody und Nona anderswo hier in der Gegend versteckt halten?«
    Er zündete sich wieder eine Zigarette an und musterte mich mit kaltem Blick.
    »Diese Kinder sind hier aufgewachsen. Sie haben auf den Feldern gespielt, die Wege und Straßen ausgekundschaftet und nie Unheil gestiftet. Eine Reise in Ihre große Stadt, und alles hat sich verändert. Ein Dorf ist wie eine Familie, Doktor. Wir bringen einander nicht um, und wir entführen auch nicht die Kinder unserer Nachbarn.«
    Seine Erfahrung und sein Beruf hätten ihn eigentlich lehren müssen, daß gerade Familien die Hexenkessel waren, in denen Gewalt entstand. Aber ich sagte nichts.
    »Da ist noch etwas, was Sie hören sollen, damit Sie es an Doktor Lynch weitergeben.« Er stand auf und blieb vor dem Fenster stehen.
    »Das hier ist wie ein großer Fernsehschirm. Die Sendung heißt La Vista. Manchmal ist es eine Seifenoper, manchmal eine Komödie. Und hier und da ist es Action und Abenteuer. Ganz gleich, was läuft: Ich sehe das Programm Tag für Tag.«
    »Ich verstehe.«
    »Damit habe ich gerechnet, Doktor.«
    Er nahm seinen Hut und setzte ihn wieder auf.
    »Gehen wir und sehen nach, wie es der berühmten Kapazität geht.«
    Der Riegel der Eisentür reagierte geräuschvoll auf Houtens Schlüssel. Dahinter befanden sich drei Zellen, die nebeneinander angeordnet waren. Ich mußte an die Strömungskammern im Krankenhaus denken. Im Gefängnistrakt von La Vista war es heiß und feucht, und es stank nach Körperausdünstungen und Einsamkeit.
    »Er ist in der letzten«, sagte Houten.
    Ich folgte seinen Schritten durch den fensterlosen Gang.
    Raoul saß auf einer Metallbank, die an der Wand befestigt war, und starrte zu Boden. Seine Zelle war zweieinhalb auf zweieinhalb Meter groß und enthielt eine Pritsche, die am Boden festgeschraubt und mit einer dünnen, fleckigen Matratze bedeckt war, eine Toilettenschüssel ohne Deckel und ein Waschbecken aus Zink. Nach dem Geruch zu urteilen, war die Toilette nicht in bestem Zustand.
    Houten sperrte die Tür auf, und wir betraten die Zelle.
    Raoul schaute mit einem Auge auf uns. Das andere war schwarz und zugeschwollen. Unter seinem linken Ohr hatte sich eine Kruste von getrocknetem Blut gebildet. Seine Lippen waren ebenfalls geschwollen und sahen aus wie rohes Steakfleisch. An seinem weißen Seidenhemd fehlten mehrere Knöpfe, so daß es offenstand und seine behaarte Brust zum Vorschein kommen ließ. Quer über den Brustkorb erstreckten sich tiefblaue Blutergüsse. Der Kragen war auf einer Seite am Saum ausgerissen und hing herunter. Gürtel, Krawatte und Schnürsenkel hatte man ihm abgenommen, und seine Schuhe aus Krokodilleder, dreckverkrustet und mit heraushängender Zunge, wirkten in diesem Zustand besonders jämmerlich.
    Houten sah meine Miene und sagte: »Wir wollten ihn säubern, aber er hat sich gewehrt, also haben wir ihn gelassen, wie er war.«
    Raoul murmelte ein paar Worte auf Spanisch. Houten schaute mich an, und sein Ausdruck war der eines Vaters, der einem von Wutanfällen geschüttelten Kind gegenübersteht.
    »Sie können jetzt gehen, Doktor Lynch«, sagte er. »Doktor Delaware wird Sie nach Hause bringen. Sie können Ihren Wagen auf eigene Kosten nach Los Angeles abschleppen oder hier reparieren lassen. Zack Piersall kennt sich auch mit ausländische Wa…«
    »Ich denke nicht daran, irgendwo

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