Flüchtig!
Kelche von Wildblumen. Es roch nach frischgemähtem Gras.
Die Sonne brannte gnadenlos auf den schattenlosen Pfad. Meine Kehle war ausgetrocknet, und ich fühlte, wie mir der Schweiß über den Nacken lief. Houten dagegen wirkte so frisch wie immer. Nach zehn Minuten Fußmarsch waren wir auf dem Gipfel des Hügels angelangt.
»Das war’s dann«, sagte Houten. Er blieb stehen, um sich eine Zigarette aus der Brusttasche zu nehmen, und zündete sie hinter der vorgehaltenen Hand an. Ich wischte mir die Stirn ab und schaute hinunter in das Tal, das sich vor uns öffnete.
Was ich sah, war Perfektion, und das entmutigte mich.
Die ›Zuflucht‹ sah noch immer wie ein Kloster aus, mit der mächtigen Kirche und den hohen Mauern. Hinter den Mauern gab es eine Ansammlung kleinerer Gebäude und ein Labyrinth von Innenhöfen. Ein großes, hölzernes Kruzifix krönte den Glockenstuhl des Kirchturms. Die Fenster der Apsis waren in Blei gefaßt und außen von Zierbalkonen aus Holz umgeben. Die Dächer und Mauerkronen waren mit roten Schindeln gedeckt. Die Wände der Häuser hatte man in gedecktem Weiß verputzt, das in der Sonne schneeweiß wirkte. Viel Mühe war aufgewendet worden, um die verschlungenen Formen und Verzierungen der Außenwände zu erhalten.
Ein Bach umgab die Anlage wie ein Burggraben. Darüber schwang sich ein Brückenbogen, der sich auf der anderen Seite, auf festem Grund, in einem ziegelsteingepflasterten Weg fortsetzte. Dieser Pfad war überdacht von einem steinernen Laubengang, an dem Weinreben rankten, und zwischen dem Grün der Blätter sah man die schweren, rubinroten Trauben hängen.
Auf der Vorderseite der Anlage befand sich ein kleiner Rasen, den alte, knorrige Eichen überschatteten. Die großen Bäume scharten sich wie tanzende Hexen um eine Fontäne, die ihr Wasser in eine große steinerne Schale spie. Hinter den Gebäuden erstreckte sich meilenweit das dazugehörige Farmland. Ich sah Felder mit Mais und Gurken, Zitrus und Olivenhaine, eine Schafweide und Weingärten, und das war vermutlich längst noch nicht alles. Eine Schar weißgekleideter Gestalten arbeitete auf den Feldern. Schweres Ackergerät summte wespenartig in der Ferne.
»Hübsch, nicht wahr?« sagte Houten im Weitergehen.
»Wunderbar. Wie aus einer anderen Zeit.«
Er nickte. »Als Kind bin ich hier auf den Hügeln herumgeklettert, um die Mönche sehen zu können - sie haben braune Kutten getragen, ganz gleich, wie heiß es war. Sie sprachen mit niemandem und hatten auch keine Beziehung zu den Leuten im Dorf. Die Tore waren stets verschlossen.«
»Muß schön gewesen sein, hier aufzuwachsen.«
»Wieso?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Die frische Luft, die Freiheit.«
»Haben Sie Freiheit gesagt?« Sein Lächeln war bitter. »Das Leben auf der Farm ist nur ein anderes Wort für ein Leben in Fesseln.«
Sein Kinn wirkte plötzlich sehr hart, und er stieß mit überraschendem Zorn nach einem Stein auf dem Weg. Ich hatte einen wunden Punkt berührt und wechselte rasch das Thema.
»Wann haben die Mönche das Kloster verlassen?«
Er machte einen Zug an seiner Zigarette, bevor er antwortete.
»Vor sieben Jahren. Das Land hat danach brachgelegen. Buschwerk und Brombeergestrüpp. Ein oder zwei Firmen wollten es kaufen und es als Erholungsstätte für ihre leitenden Angestellten oder etwas Ähnliches benutzen, aber nach kurzer Zeit haben sie einen Rückzieher gemacht. Die Gebäude waren nicht dazu geeignet: kleine, zellenartige Räume, keine Heizung, und wie man es auch umgebaut hätte, es hätte immer wie eine Kirche oder ein Kloster ausgesehen. Obendrein wären die Kosten für eine Renovierung sehr hoch gewesen.«
»Aber für die Berührer gerade richtig.« Er zuckte mit den Schultern.
»Jeder Topf findet seinen Deckel.«
Der vordere Eingang des Hauptgebäudes bildete oben ein Halbrund, die Doppeltüren aus starken Bohlen wurden von breiten Eisenbeschlägen zusammengehalten. Dahinter befand sich eine drei Stockwerke hohe, weißgetünchte Eingangshalle mit mexikanischen Fliesen auf dem Boden und einer verglasten Dachkuppel, durch die der Raum erhellt wurde. Buntglasscheiben warfen Lichtflecken in allen Regenbogenfarben auf die Fliesen des Bodens. Der würzige Rauch von Weihrauch drängte sich auf. Die Luft war kühl, beinahe kalt.
Eine Frau um die Sechzig saß an einem Holztisch vor zwei übergroßen Türen, die wie die Eingangstüren oben abgerundet und mit schweren Eisenbändern versehen waren. Ein Schild darüber trug die
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