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Flügel aus Asche

Flügel aus Asche

Titel: Flügel aus Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaja Evert
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Hals und ausgebreiteten Schwingen, das Symbol des Draquer-Erbes und der Überlegenheit Rashijas. Das Schimmern der kostbaren Materialien ließ das Blut flüssig wirken und verlieh den bunten Schuppen der Skadas und Drachen Glanz. Adeen fröstelte. Es war, als hätte jemand das, was in diesem Moment draußen auf dem Schlachtfeld geschah, vor langer Zeit vorhergesehen und in diesem abscheulichen Kunstwerk festgehalten. Aber dieses Bild zeigte Geschehnisse der Vergangenheit, verdichtet zu einer einzigen grausigen Szene. Dennoch fühlte Adeen sich gelähmt, hilflos angesichts einer Wirklichkeit, die ihm lebendiger vorkam als seine eigene.
    »Der Herrscher«, sagte Talanna gedämpft und wies auf die Abbildung des Feldherrn. »Es heißt, dass er früher selbst an den Schlachten teilnahm. Seiner rechten Hand fehlen drei Finger, hier.«
    Sie schien nicht unter den Bann des Kunstwerks geraten zu sein, was Adeen half, sich zu fangen. »Das muss die Ratshalle sein.«
    Talanna stemmte sich gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen, sondern gab unter ihrem Gewicht mit leisem Knarren nach und ließ sich nach innen aufschieben, schwergängig durch den Schmutz am Boden. Nachdem Talanna ihm einen Blick über die Schulter zugeworfen hatte, setzte sie ohne ein weiteres Wort den Fuß über die Schwelle und schlüpfte in die Schwärze, die alles hinter dem Türrahmen einhüllte. Adeen folgte ihr.
    Die Kristalle an den Wänden begannen zu glühen und erhellten einen langen, schmalen Saal. Hier wurde die Schlachtszene der Tür fortgesetzt – wenn auch nur noch mit Farben, nicht mit Edelsteinen – und überzog die Wände mit Geschichten von brutaler Macht und Vernichtung. Ein wuchtiger Tisch füllte den Raum fast völlig aus. Er war leer, die Stühle an beiden Seiten des Tisches standen verlassen da. Ihre Füße traten auf weichen, nachgiebigen Teppichboden, ehemals bunt, jetzt grauweiß von Staub. Alles wies darauf hin, dass hier einst bedeutende Entscheidungen gefällt worden waren, aber was hatte zu dieser Vernachlässigung geführt?
    Adeen zitterte. Seine Verletzungen, Aufregung, Erschöpfung und Kälte forderten ihren Tribut und machten es schwierig, sich zu konzentrieren. Wenn sie kämpfen mussten … Aber alles lag still.
    Talanna huschte tiefer in den Raum hinein, und weitere Kristalle entzündeten sich. Einer glühte nicht blauviolett wie die übrigen, sondern weiß wie das Tageslicht des Winters. Er warf ein Schlaglicht auf das Kopfende des Tisches – und dort saß jemand. Adeens Hand krallte sich in seinen Umhang, als er die zusammengesunkene Gestalt entdeckte, und er wich zurück, während sich Talannas Schwert mit leisem Schaben aus der Scheide löste. Sie standen beide starr, bereit, anzugreifen, bis sie merkten, wie sinnlos das war. Der Mann, der dort saß, würde ihnen nichts antun.
    Die Gestalt trug einen kostbaren Mantel in Rot-, Blau- und Violetttönen. Die goldenen Schriftzeichen, die darauf gestickt waren, erzählten von lang vergessenen Zaubern. Weißes Haar stand in feinen Strähnen um den Kopf ab und umrahmte ein Gesicht, das nur noch aus schwarzer, verschrumpelter Haut bestand. Darunter zeichneten sich die Knochen des Schädels deutlich ab. Widerstrebend trat Adeen näher heran. Er konnte nicht einmal erkennen, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelte. Die vertrocknete Leiche wirkte so zerbrechlich wie der Körper eines Kindes. Über dem Kopf des Toten spannte sich ein Paar goldener, halb ausgebreiteter Drachenflügel. Nur die Armstützen und die hohe Rückenlehne des Stuhls hatten verhindert, dass der Leichnam in sich zusammensackte. Die Hände, ebenso schwarz und vertrocknet wie der Rest des Körpers, stachen dürr aus den üppig verzierten Ärmeln hervor und umklammerten noch die Drachentatzen, in denen die Armlehnen ausliefen.
    Der rechten Hand fehlten drei Finger.
    Talannas Hände sanken herab, sie wirkte ebenso fassungslos, wie Adeen sich fühlte. Was hatten sie erwartet – ein Gefecht gegen einen mächtigen Magier? Eine Quelle unfassbarer Macht, auf die der Herrscher sein Regime stützte? Was sie nun sahen, war nicht mehr als das, was aus jedem anderen Körper an diesem Ort geworden wäre. Auf dem Gesicht, dessen Züge Kälte und Trockenheit des Palasts bewahrt hatten, lag ein Ausdruck bekümmerter Mattigkeit, und der halb geöffnete, schiefe Mund sah aus, als litte der Tote Schmerzen. Ob er hier gestorben war, auf diesem Thron, während einer Ratssitzung?
    Talanna fand als Erste ihre Stimme

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