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Flügel aus Asche

Flügel aus Asche

Titel: Flügel aus Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaja Evert
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wieder. »Ich … ich begreife das nicht! Warum haben sie ihn denn nicht weggeschafft? Warum ihn hier sitzen lassen? Das alles ist doch … das ist unglaublich, ein schlechter Witz! Wir haben doch nicht all die Jahre lang den Launen eines Toten gehorcht!«
    »Doch, das haben wir.« Adeen hatte den Herrscher gehasst, weil er für ihn der Grund für alles gewesen war, was ihn so lange gequält hatte: das Verbot der Kunst, die Erniedrigung wegen seiner Herkunft, die ganze Ungerechtigkeit, die Rashija gefangen hielt. Er war entschlossen gewesen, gegen ihn zu kämpfen, ihn zu töten, wenn er konnte. Diesen Toten mit seinem müden Gesicht konnte er nicht hassen. Mit seinem weißen Haar sah er Rasmi erschreckend ähnlich. In all der Zeit, während der tote Herrscher hier gesessen hatte, mussten andere die Geschicke der Menschen in Rashija gelenkt haben. Dumpf begriff Adeen, dass es nicht möglich war, einer Person allein die Schuld für all das Elend aufzuladen, das er selbst und andere erfahren hatten.
    Talannas Gesicht verzerrte sich. »Ich reiße ihn in Stücke!«
    »Nein!« Adeen fiel ihr in den Arm. »Wir werden die Leiche brauchen, als Beweis für seinen Tod.«
    Talanna drängte sich an ihn. Sie zitterte heftig. »Der Scheißkerl hat mich betrogen! Ich wollte ihn umbringen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich es wollte.« Sie drückte den Kopf an seine Schulter, überwältigt von ihren Gefühlen, und Adeen strich ihr ungeschickt über das kurze, struppige Haar. Er wusste nicht, was er sonst für sie tun sollte. Eben war sie noch entschlossen gewesen zu töten; jetzt, da sie es nicht konnte, sank sie in sich zusammen wie ein erlöschendes Feuer. Und obwohl ihre Wut und ihr Hass ihn ängstigten, war auch ihm zumute, als würde der Boden unter seinen Füßen wegbrechen.
    In welcher Welt lebte er? Er hatte sie nicht gekannt, und nun erschien sie ihm fremder denn je.
    »Sie haben nicht geglaubt, dass wir es herausfinden«, murmelte er in Talannas Haar, »dass wir den Weg hier hinein finden. Sie haben sich für unbesiegbar gehalten. Alle, die ihren Lügen auch nur im Geringsten gefährlich werden konnten, haben sie umgebracht, so wie die Schreiber. Sie haben nicht mit dir und mir gerechnet – einer Verräterin und einer Krähe.«
    Talanna löste sich von ihm. Ihr Zittern hatte nachgelassen. Sie weinte nicht, aber ihr Gesicht war tiefviolett angelaufen, die Augen funkelten. »Wer sind ›sie‹? Wer hat uns so betrogen?«
    »Ich weiß es nicht, Talanna. Einer von ihnen ist Charral, aber die anderen …«
    »Der Rat.« Talannas Hände öffneten und schlossen sich, tasteten über ihren Schwertgriff und schienen sinnlos Feuerzauber formen zu wollen. »Der Rat von Rashija – zu dem auch mein Vater gehört. Sie behaupten, dass sie die Gesetze des Herrschers verwalten und ihre Einhaltung überwachen, und das tun sie auch – ohne den Herrscher, und wahrscheinlich auch ohne seine Gesetze! Warum haben sie uns das angetan?«
    In Adeen formte sich allmählich Erkenntnis wie die zögernden ersten Pinselstriche eines Bildes auf dunklem Untergrund. »Sie müssen Angst gehabt haben, dass sein Tod ihnen die Macht nimmt, an die sie sich gewöhnt hatten. Vielleicht haben sie deswegen weitergemacht, als wäre nichts geschehen.« Erneut betrachtete er die Leiche. Das hohle, ledrige Gesicht verriet nicht, ob der Tote erst zehn oder bereits fünfzig Jahre hier saß. »Wer weiß, wie lange schon.« Er fragte sich, was die eigentliche Ideologie des Herrschers gewesen war, welche Ziele er tatsächlich gehabt hatte, und was von allem, was er jemals gelernt hatte, nur dem Machterhalt der Elite gedient hatte.
    »Alle müssen es erfahren«, sagte Talanna. »Ich weiß auch schon, wem wir es als Erstes erzählen. Kuama wird dafür sorgen, dass sich die Nachricht schnell verbreitet. Bis vor kurzem ist sie immer eine treue Soldatin des Rats gewesen. Pah, wenn ich nur daran denke, wofür sie ihr Leben verschwendet hat! Aber ihre Leute vertrauen ihr, das hast du gesehen. Und ich hoffe, dass sie einen noch stärkeren Aufruhr verhindern kann.«
    »Das hoffe ich auch.« Nachdem Adeen die zornigen Gesichter und die Brandfackeln auf der Straße gesehen hatte, war er keineswegs sicher, dass irgendetwas oder irgendjemand die Menschen beruhigen konnte, sobald sie erst einmal die Wahrheit kannten. Er fürchtete, sie würden sich auf der Stelle nehmen wollen, was ihnen die Lügen lange Zeit verwehrt hatten, sei es nun Besitz, Freiheit oder einfach die

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