Flügel aus Asche
Möglichkeit, ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Und diejenigen Ratsmitglieder, die noch übrig waren, würden mit all ihrer verbliebenen Macht versuchen, sie daran zu hindern. Es würde Tote geben, vielleicht sehr viele. Er konnte nur hoffen, dass es Talannas Schwester gelang, das Schlimmste zu verhindern. Aber auch er sah keinen anderen Weg. Die Rashijaner waren lange genug belogen worden. Wenn sie die Wahrheit erfuhren, musste er es ihnen selbst überlassen, was sie daraus machte.
»Was?« Kuama wurde kalkweiß. »Sag das noch einmal.«
»Der Herrscher ist tot«, wiederholte Talanna. Sie wies auf die Menge, die sich vor dem Palast versammelt hatte. Inzwischen war sie noch angewachsen. »Diese Leute verlangen, dass er herauskommt und sich ihnen stellt. Das wird nie mehr passieren. Du musst es ihnen beibringen, denn dir werden sie glauben.«
Ganz offensichtlich war Kuama eine erfahrene Soldatin und hatte gelernt, auch mit plötzlichen Überraschungen umzugehen, denn im Gegensatz zu Talanna verlor sie nicht die Beherrschung. Ihr Gesicht verschloss sich. »Zeig mir einen Beweis.«
»Ich fürchte, du wirst vor Ort gebraucht. Schick einen deiner Leute, dem du vertraust, in den Palast, dann wirst du sehen, dass ich die Wahrheit sage. Er muss diesen Zauber bei sich tragen und ihn entrollen, sobald er Schwierigkeiten bekommt.« Talanna drückte ihrer Schwester die zerknitterte Schriftrolle in die Hand, die Adeen und sie vor den künstlich belebten Wachen gerettet hatte.
Kuama wandte den Kopf und blickte sich über die Schulter nach einem hageren Soldaten um, der das Gespräch im Abstand weniger Schritte verfolgt hatte. »Delan, du hast sie gehört. Geh und überprüfe, was Talanna gesagt hat.« Der Soldat, dessen Drachenrüstung stumpf war von Staub und bräunlichen Blutsprenkeln, neigte den Kopf vor seiner Kommandantin, nahm den Zauber entgegen und entfernte sich.
»Ich glaube dir«, sagte Kuama zu Talanna. »Der Blitz soll mich treffen, aber ich glaube dir. Der Herrscher … ich weiß, du wirst mir nicht zustimmen, aber er war ein Mann mit großem Weitblick. Meine Leute und ich wurden dagegen von Narren in diesen Krieg geschickt. Sie haben den Feind unterschätzt, unsere Stärke dagegen überschätzt. Ja, irgendwie habe ich es gewusst, aber ich wollte es wohl nicht wahrhaben.« Sie berührte Talannas Hand, unschlüssig. »Danke, Lanna. Ich weiß nicht, was nun passieren wird, aber ich vermute, diese Stadt ist dir und deinem Freund zu Dank verpflichtet.« Sie blickte auch Adeen aus ihren farblosen Augen an, und er sah das traurige Lächeln um ihre Mundwinkel. Mit Unbehagen erkannte er: Kuama wusste ebenfalls, dass es noch vor dem Abend viele Tote geben würde. Er wollte etwas Ermutigendes sagen, irgendetwas Kluges, aber ihm fehlten die Worte.
»Was wollt ihr jetzt tun?«, fragte Kuama. »Diese Stadt wird bald nicht wiederzuerkennen sein.«
»Du weißt es«, sagte Talanna tonlos. Adeen warf ihr einen überraschten Blick zu, doch seine Verwirrung verwandelte sich in düstere Erkenntnis, als sie weitersprach. »Wir sind mit den Rebellen gekommen, um Rashija zu erobern. Wenn die Menschen hier die Stadt ins Chaos stürzen, muss der Rat seine Truppen vom Schlachtfeld abziehen, oder sie haben keinen Ort mehr, an den sie zurückkehren können. Dann schlagen wir zu.«
»Meine Leute und ich werden auf deiner Seite kämpfen, Schwester«, sagte Kuama. »Vielleicht erlebe ich den nächsten Morgen nicht mehr. Aber ich bin glücklich, die Wahrheit zu kennen und zu wissen, dass ich richtig entschieden habe.«
20
Straßenkampf
E he noch die Winternacht ganz hereingebrochen war, färbten Flammen den Himmel. Rashija brannte, und die Brände breiteten sich aus. Kuama hatte die Wahrheit gesagt: Die rashijanischen Truppen verloren den Krieg. Jetzt, in der Nacht, waren sie bis in die Stadt zurückgewichen, wo Rauch und Chaos sie erwartete.
Das Heer der Rebellen hatte sein Nachtlager auf der Felsplattform aufgeschlagen, wo Rashija gelandet war, nur einen kurzen Fußmarsch von der Stadt entfernt. In der allgemeinen Unruhe waren Adeen und Talanna aus Rashija geflohen, solange das letzte Abendlicht den Himmel färbte, und rascher als erwartet auf ihre alten Verbündeten gestoßen. Die Wachen ließen sie ins Lager ein, und nun saßen sie wieder im Zelt der Königin von Tama, zusammen mit einer großen Gruppe erschöpfter Kämpfer und Kommandanten. Viele hatten nicht einmal die Zeit gehabt, ihre Rüstungen abzulegen. Sie hockten so
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