Flügel aus Asche
weiter mit seinen vollkommen gleichmäßigen Bewegungen den Gang entlang, als wäre nichts geschehen.
Erst jetzt wurde Adeen bewusst, dass er seine Finger so hart in Talannas Schulter gegraben hatte, dass es ihr weh tun musste. Leicht beschämt löste er sich von ihr. Doch sie schien es nicht einmal bemerkt zu haben. Sie wischte sich über die Stirn und holte tief Atem.
»Was um alles in der Welt war das?« Adeen konnte den Blick noch immer nicht von der Gestalt lösen, die jetzt wieder ins Dunkel eintauchte und nicht mehr als ein schwaches Glänzen und das Echo ihrer Schritte zurückließ.
»Einer der Wächter, die wir vermisst haben, denke ich.«
»Aber es war … nicht lebendig, oder?«
Talannas fahle Lippen verrieten, wie heftig auch sie sich erschrocken hatte, obwohl sie offenbar bemüht war, es zu überspielen. »Nein. Hast du die Schriftzeichen auf seinem Körper gesehen? Ich habe davon gehört … Worte der Magie, die sogar toter Materie etwas Ähnliches wie Leben einhauchen.«
Adeen dachte an die unzähligen Schriftzeichen, die er selbst während seiner Zeit in der Akademie aufs Papier gemalt hatte, an Feuerbälle, Eiskristalle und den Schwebezauber, und fühlte sich niedergedrückt von der Last der Macht, die unter seinen Händen entstanden war.
»Gibt es eigentlich etwas, was diese Magie nicht kann?«, flüsterte er.
»Wirkliches Leben erschaffen kann sie jedenfalls nicht. Komm, Adeen. Dieser Wächter hat uns dank des Schriftzaubers für Charral gehalten, wie es aussieht. Deine Idee war unsere Rettung, aber ich möchte lieber keinem anderen von diesen Metallriesen mehr begegnen.«
Sie gingen weiter, folgten den Spuren im Staub, die in ein System von Gängen hineinführten. Die Wände waren mit Marmorplatten getäfelt, schwarz, grau und rosafarben geädert, aber der Stein glänzte nicht mehr, und an mehreren Stellen wucherten schwarze Flechten darüber wie Schimmel. Es war so kalt, dass ihr Atem weiße Spuren in der Luft zurückließ. Noch einige Male hörten sie das Stampfen der Wächter in fernen Gängen widerhallen und verharrten, bis es verklungen war.
»Sollten wir nicht besser einen Weg hinaus suchen?« Adeens Augen brannten von dem flackernden Licht. »In dieser Ruine werden wir den Herrscher wohl nie finden.«
»Alles ist anders als erwartet, das gebe ich zu«, sagte Talanna, »aber jetzt glaube ich nicht mehr, dass dies der falsche Ort ist. Diese Wächter laufen nicht zum Spaß hier herum. Selbst wenn wir den Herrscher hier nicht finden, jemand versteckt etwas Wichtiges in diesem Gebäude. Vielleicht eine Quelle magischer Macht, einen bedeutenden Zauber – wir werden es herausfinden.«
»Wenn wir kämpfen müssen«, sagte Adeen unbehaglich, »wie lautet dein Plan?«
»Ich lenke den Gegner mit der Klinge ab, du gibst ihm den Rest. Du erinnerst dich doch daran, was ich dir beigebracht habe?«
Er nickte nur. Ihr Plan klang so sehr nach verzweifeltem Mut, wie er befürchtet hatte. Trotz allem war er entschlossen, nicht zuzulassen, dass Talanna ihr Leben wegwarf, wenn es nur in seiner Macht lag. Was sie auch erwartete, sie mussten diesen Tag gemeinsam durchstehen oder sterben.
Im Staub bildeten die Fußspuren Muster und liefen mit anderen zusammen, die aus entfernteren Teilen des Herrscherpalasts stammten. Sie näherten sich ihrem Ziel. In der Stille des leeren Gebäudes hörte Adeen nur ihre gedämpften Schritte und seinen Herzschlag, der ihm in den Ohren dröhnte.
Die Spuren führten auf eine schwere Doppeltür zu. Das flackernde Licht eines altersschwachen Kristalls beleuchtete die Szene, die mit Metall und Edelsteinen in ihre Oberfläche eingelegt war. Adeen hätte sich am liebsten abgewendet, denn es war eine Schlacht. Das Bild wies dieselbe altertümliche, sachliche Brutalität auf, die er auch von den öffentlichen Reliefs kannte: Reiter auf Skadas in Umhängen aus Rubin durchbohrten Fußkämpfer mit ihren Klingen, Magier hüllten ihre Feinde in Mäntel aus Flammen oder Blitzen. In feinen, dekorativen Fontänen spritzte das Blut. Ein Feldherr befehligte seine Krieger mit erhobener Hand und aufgerissenem Mund, der Rest seines Gesichts blieb unter dem Helm verborgen. Reihen von Menschen – dunkelhäutigen Menschen, die alle gleich aussahen – knieten auf der Erde, um von einem verhüllten Mann enthauptet zu werden. Einige Köpfe lagen bereits am Boden, während der Rest der Unglücklichen noch auf den Vollzug der Hinrichtung wartete. Über alldem schwebten Drachen mit gebogenem
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