Flügel aus Asche
vorerst.«
»Was?«, fragte Talanna. »Wie kommst du darauf?«
»Diese Idioten von Ratsherren haben ihre letzte Möglichkeit verspielt, die Sache friedlich zu lösen. Ich fürchte, auch die Königin wird jetzt nicht mehr bereit sein, noch einmal mit ihnen zu verhandeln. Sie wird vielleicht entscheiden, Rashija zu besetzen, oder es zu zerstören. Und ich kann es ihr nicht einmal verdenken, wenn sie den Glauben in die Vernunft ihrer Gegner verloren hat. Es ist nicht leicht, objektiv zu sein, wenn einem der Arm vom Ellbogen an fehlt. Aber die Stadt ist jetzt schon in Aufruhr und eingekreist von den Truppen derjenigen, die sie all die Jahrzehnte unterdrückt hat. Die Menschen wollen sich rächen, und am liebsten würden sie damit jetzt schon anfangen.«
»Das haben diese verdammten Draquer doch verdient«, brummte Yoluan, »sie sollen ruhig sehen, was sie von alldem haben – entschuldige, Talanna. Dich meine ich natürlich nicht. Du bist eine von uns.«
»Was für ein Unsinn!«, sagte Talanna heftig, aber nicht zu Yoluan, sondern zu Schwärmer. »Wie soll Rashija kontrolliert werden, wenn sie wieder in der Luft schwebt? Wenn wir das zulassen, geht doch alles wieder von vorn los, die ganze Tyrannei und die Ungerechtigkeit!«
»Vielleicht.« Schwärmer zuckte die Achseln. »Aber was erwartet die Stadt hier auf dem Boden?«
Adeen dachte an die Umrisse Rashijas am Himmel, den drohenden dunklen Felsen, der sich langsam auf die Welt hinabsenkte und seinen Schatten auf sie warf. Dieser Anblick war gewiss für alle Bodenbewohner mit Angst und Hass verbunden. Auch er selbst hatte keine guten Erinnerungen an Rashija, dennoch war es seine Heimat. »Was können wir denn tun, um zu helfen?«
Schwärmer seufzte. »Vor den Rashijanern liegt eine schwierige Zeit. Ich könnte behaupten, jetzt, da die Menschen die Wahrheit über den Herrscher und seine Lehren kennen, werde sich die Stadt rasch erholen. Aber dafür haben zu viele Rashijaner über Jahrzehnte hinweg Vorteile durch das Regime genossen. Sicher, viele wurden unterdrückt. Doch gerade diejenigen, die sich zu Handlangern des Herrschers gemacht haben, waren einflussreich und sind es womöglich noch immer. Und auch die Übrigen – wir verlangen von ihnen, alles aufzugeben, woran sie all die Zeit geglaubt haben. Wir brauchen gute Argumente und viel Zeit.« Er seufzte. »Diese Stadt benötigt mutige Geister, die sich um sie kümmern, kluge Köpfe und große Heiler. Am besten aus Rashija selbst und gleichzeitig vom Boden.«
»Ich werde nach Rashija zurückkehren«, sagte Talanna. »Mein Vater hat dazu beigetragen, dieses Unheil anzurichten. Ich werde tun, was ich kann, um es wiedergutzumachen.«
Adeen fragte sich, was
er
tun konnte. Er wusste es nicht, wusste nur, dass er mit seinen neu entdeckten Heilkräften überall gebraucht wurde. Wenn er erst gelernt hatte, diese Magie zu kontrollieren … doch diese Aufgabe erschien ihm schwer, unlösbar in der Kälte des Abends.
In der plötzlichen Stille zischte das Feuer, als würde es atmen.
»Ich bin müde«, sagte Adeen, »ich suche mir einen Platz zum Schlafen.«
Aber bei aller Erschöpfung fand Adeen keine Ruhe. Er lag wach unter den Decken und Fellen, starrte ins Dunkel und spürte, wie die Flügel des Aschevogels rastlos seinen Verstand streiften. Die Sehnsucht nach dem Himmel trieb ihn schließlich zurück ins Freie. Am Waldrand, fern von den anderen, wickelte er sich in seine Decken. Auch wenn ihn das Feuer des Aschevogels von innen zu wärmen schien, waren seine Finger und Zehen taub vor Kälte. Trotzdem fühlte er sich hier besser, fern von den anderen. Nur Talannas Nähe hätte er sich gewünscht.
Er blickte auf die Silhouette von Rashija. Noch immer flackerte hier und dort rötlicher Feuerschein, zeichnete die Umrisse der Gebäude nach, doch ihre Formen waren nicht mehr vertraut. Türme waren eingestürzt, Bauwerke ragten nur noch als gezackte Ruinen auf. Aber allmählich erloschen die Brände. Adeen seufzte und hauchte in die hohlen Hände, um sie zu wärmen.
Plötzlich erklangen aus der Ferne Schreie. Nicht die Schreckens- und Schmerzensschreie, von denen er heute so viele gehört hatte – in diesen Schreien lagen wilde Wut und eine solche Entschlossenheit zu kämpfen, dass sie Adeen zusammenzucken ließen. Augenblicklich sprang er auf, warf die Decken von sich und blickte sich um. Die Winternacht war trotz des sternenübersäten Himmels schwarz, und der Wald behinderte seine Blicke zusätzlich. Plötzlich
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