Flügel aus Asche
ein paar Spritzer abbekommen.
Talanna zog eine Kiste heran, stülpte sie um und setzte sich rittlings darauf. »Fühlst du dich besser?«, fragte sie nach einer Weile.
Adeen nickte.
»Warum hast du dich mit diesem Messer geschnitten?«
Er senkte den Blick. »Ich weiß es nicht.«
»Was hast du da gezeichnet? Eine Art Vogel, oder?«, fragte sie, als er nichts erwiderte.
Er brummte eine undeutliche Zustimmung.
»Du bist Künstler, wie viele von den Rebellen. Du gibst dich wohl nicht damit zufrieden, einfach die Zeichen vor deiner Nase abzuschreiben.« Ihr Blick wanderte über den Vogelschwarm auf den Wänden.
Adeen tauchte den Finger in einen Tintenfleck auf dem Tisch und malte eine Linie.
Eine Feder. Ein Flügel …
Mit Willensanstrengung zog er die Hand fort.
»Die letzten Tage müssen hart für dich gewesen sein«, fuhr Talanna fort. »Ich würde dir ja raten, dich auszuruhen, aber wir brauchen deine Fähigkeiten.«
Als hätte ich es gewusst.
Adeens Hände wollten seinem Willen nicht recht gehorchen, und als er nach dem Rohr griff, zitterten seine Finger.
»Gib mir das Rohr, ich spitze es für dich an.«
Sie wollte ihm das Messer nicht noch einmal überlassen, das war offensichtlich. Dankbar hielt er ihr sein Schreibrohr hin und sah zu, wie sie die Spitze zuschnitt.
»Ich habe dir neue Vorlagen mitgebracht. Hier.« Talanna öffnete ihren Beutel und nahm ein schmales Buch in einem Ledereinband heraus, das sie ihm hinschob. »Das hier enthält einen Zauber, der dem Körper die Schwere nimmt. Damit wird man bei einem Sprung in die Tiefe zu Boden segeln wie eine Feder. Leider hält er nur wenige Augenblicke an. Ich würde mich nur als letzte Rettung darauf verlassen.«
Die Vorstellung, in die Tiefe zu springen, ließ Adeens Magen kribbeln. »Glaubst du, wir werden das brauchen?«
Sie zuckte die Achseln. »Nemiz möchte sechzig davon, für jeden von uns einen und einige auf Vorrat.«
»Es war nie die Rede davon, dass wir irgendwo hinunterspringen müssen. Nemiz wollte doch diese Insel übernehmen – so sehr vertraut er also auf seine Pläne?« Adeen blickte sie prüfend an, aber Talannas Gesicht war undurchschaubar, verriet weder Besorgnis noch Zuversicht. Das Licht der Lampe ließ ihre Augen schimmern wie flüssiges Wachs.
»Du bist so ruhig«, sagte er, »hast du vor überhaupt nichts Angst?«
»Was würde das nützen?«
Er erinnerte sich an die unzähligen Gelegenheiten, an denen er Angst gehabt hatte, und empfand Respekt vor Talannas Stärke. Vielleicht war es doch nicht so schwierig, mutig zu sein? Wurde man von selbst mutig, sobald man nichts mehr zu verlieren hatte? Er sprach aus, was ihm durch den Kopf ging: »Wenn wir es schaffen, wenn du wirklich frei wirst … was willst du dann tun?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie. »Aber in einem bin ich mir sicher: Ich werde mich der Gewalt des Herrschers nicht länger ausliefern. Ich werde fliehen, und es ist mir völlig egal, was mich das kostet.« Sie hielt inne. »Adeen, ich denke, es wäre am besten, wenn du dich jetzt an die Arbeit machst.« Sie schlug das Buch auf, das sie vor ihm auf den Tisch gelegt hatte. »Kannst du schon wieder schreiben?«
Er nickte.
»Gut, dann werde ich die fertigen Zauber versiegeln. Nemiz kann es sicher kaum erwarten, sie in die Finger zu bekommen.«
Adeen analysierte den Beginn des neuen Zaubers aus der Vorlage und tauchte das Rohr ins Tintenfass. Die ersten Striche gerieten ihm zwar reichlich wacklig, aber die vertraute Arbeit half ihm, sich zu beruhigen. Bald bildeten die farbigen Zeichen, die er niederschrieb, erste Zeilen des gitterähnlichen Musters, das bei allen Zaubern ähnlich und doch vollkommen unterschiedlich war. Zauberzeichen glichen eher Bildern als Buchstaben, und in einigen glaubte Adeen auch zu erkennen, was sie darstellten: eine Wolke am Himmel, ein Untier, das sich aufbäumte … Sie alle bestanden zwar nur aus Strichen und einfachen Formen, aber man brauchte gute Augen und eine ruhige Hand, um sie exakt zu kopieren.
»Wie viel Zeit habe ich für diese Aufgabe?«, fragte er.
»Drei Tage. Dann bringe ich dir wahrscheinlich noch weiteres Material.«
»Was? Das sind sechzig Zauber. Ich schaffe höchstens sechs pro Tag. Wann landet die Stadt?«
»In sieben Tagen. Gib dein Bestes. In drei Tagen müssen wir zuschlagen, das ist unsere einzige Möglichkeit für die nächsten fünfzig Jahre.«
Sieben Tage also, ehe er herausfinden sollte, ob er leben oder sterben würde. Adeen senkte den Kopf
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