Flügel aus Asche
sie auf einmal, und ohne dass sie etwas sagen musste, begriff Adeen, was geschehen sein musste. Seine Schreiber-Kollegen an der Akademie hatten darüber gesprochen, dass Draquer-Frauen bei der Eheschließung der Kopf geschoren wurde. Es war ein Symbol dafür, dass sie sich von diesem Zeitpunkt an ganz der Gewalt ihres Mannes auslieferten. Aber es hieß auch, dass diese leuchtend bunten Haare einen Teil der Magie ihrer Träger in sich bargen.
»Du wurdest verheiratet?«
Talanna nickte und zog sich die Kapuze wieder über den Kopf. Sie wich Adeens Blick aus. »Charral wollte es ›hinter sich bringen‹, bevor Rashija landet, so hat er es ausgedrückt. Meine Haare – solange er sie hat, kann ich meine Magie nicht einsetzen. Ich habe mich gewehrt, so gut ich konnte, aber er ist stärker. Außerdem kann er seine Magie gegen mich benutzen. Nun geben ihm die Gesetze des Herrschers das Recht, mich einzusperren wie ein Stück Zuchtvieh. Ich glaube nicht, dass ich mich noch weiter mit Nemiz … und mit dir treffen kann, ohne dass er herausfindet, wohin ich gehe. Schon jetzt sollte ich nicht hier sein. Ich bringe alle in Gefahr.«
Nur allzu deutlich erinnerte sich Adeen an Charrals Sadismus, daran, wie er ihm ins Gesicht getreten hatte, als er schon am Boden lag, an seine Freude, als er die Rebellen stellte. Und er besann sich darauf, was Großmutter über Nemiz erzählt hatte – die Geschichte von dem Mann, der seine Ehefrau totgeschlagen hatte, weil die Gesetze es erlaubten.
Und er ahnte, welche Gründe Talannas Niedergeschlagenheit hatte.
Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. Kurz sah es so aus, als würde sie ihre Fassung wiederfinden, doch dann verzog sich ihr Gesicht zu einer kläglichen Grimasse. Eine Träne lief über ihre Wange, dann die nächste. Er bemerkte einen dunklen Fleck wie von einem Handabdruck an ihrem Hals, der halb im Schatten der Kapuze verschwand. Talanna weinen zu sehen, erschreckte ihn. Wenn sie so nach einem Tag als Charrals Ehefrau aussah, was sollte dann aus ihr werden, wenn sie ihm für den Rest ihres Lebens ausgeliefert war? Er würde sie erniedrigen, er würde sie brechen, ganz egal, wie tapfer und stark sie war. Der Gedanke war unerträglich.
»Du kannst nicht bei ihm bleiben!«, sagte er mit aller Entschiedenheit. »Jetzt musst du erst recht fliehen.«
»Ist schon gut, Krähe. Es ist alles … in Ordnung. Du … du solltest nur nicht so freundlich zu mir sein. Ich gehöre zu denen, die Leuten wie dir schreckliche Dinge antun, vergiss das nie.«
»Was redest du denn? Du würdest das nie tun. Das weiß ich.«
In diesem Moment erschien es ihm ganz selbstverständlich, sie zu umarmen. Ihr Körper war heiß, durch den dicken Stoff ihrer Herbstkleidung fühlte er die Wärme, die ihre Haut ausstrahlte, fühlte, wie mager sie war, die knochigen Schultern – sie roch wie Sommerluft, die über den aufgeheizten Straßen glühte und flimmerte. Ganz vorsichtig legte er ihren Kopf gegen seine Schulter, und sie ließ es geschehen.
Sie rührte sich nicht. Erst, als er sie losließ, murmelte sie: »Tu das nicht. Du idiotische Krähe! Du kannst nichts für mich tun. Mach es mir nicht noch schwerer.«
Sanft schob sie ihn von sich und sah ihm in die Augen.
»Pass auf dich auf, Adeen.«
Und sie beugte sich plötzlich vor und küsste ihn auf die Wange. Er stand da wie erstarrt, während ein Funkenschauer durch seinen Körper lief.
Talanna raffte ihren Umhang um sich und hastete die Treppe hinauf.
»Warte!«, rief Adeen und lief ihr hinterher. »Warte doch!«
Er folgte ihr hinauf bis zur Tür des Museums. Auf der Straße schlug ihm der kalte Wind entgegen, peitschte ihm Regentropfen ins Gesicht. Talanna war fort, eingetaucht in die Schwärze des Abends. Adeen rief ihren Namen, aber der Wind verschluckte seine Stimme.
Wohin mochte sie gegangen sein? Durch die Wolkenfetzen ließen sich kaum die Sterne ausmachen, und keine Kerze oder Lampe, die er besaß, würde bei diesem Wetter brennen. Dennoch tastete sich Adeen an den feuchten Hauswänden vorwärts, erst in die eine, dann die andere Richtung, und rief weiter Talannas Namen, bis er einsah, dass es sinnlos war – und dass ihn die Wachen leicht aufspüren konnten, wenn er weiter so unüberhörbar herumschrie.
Fröstelnd und mit hochgezogenen Schultern kehrte er ins Museum zurück. Unter seinen Füßen bebte die Straße, die üblichen Turbulenzen, wenn Rashija durch eine stürmische Region flog. Adeen war das leichte Rütteln von Kindheit an
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