Flügel aus Asche
gewohnt. Nass, durchgefroren und zerzaust kehrte er in sein Quartier zurück. In der Eile hatte er sogar den Umhang liegenlassen, den ihm Großmutter gegeben hatte. Er schälte sich aus der klammen Robe, breitete sie neben der Feuerschale zum Trocknen aus und starrte in die Glut.
Noch nie hatte ihn jemand geküsst, und er hatte sich immer vorgestellt, wie es … nein, er hatte sich überhaupt nichts Bestimmtes vorgestellt. Und auch jetzt war sein Kopf leer, er wollte nur, Talanna wäre geblieben, sie wäre noch bei ihm.
Er rieb die halb erstarrten Hände in der warmen Luft, die über der Feuerschale aufstieg, und wartete, bis das Gefühl in seine Finger zurückkehrte. Dann sorgte er dafür, dass seine fertigen Schriftrollen bereit für den Transport waren. Sie mussten zum Schutz zusammengerollt, mit einer Kennung und mit einem Band versehen werden, damit sie bei Bedarf schnell geöffnet werden konnten. Er stapelte sie in dem Korb aufeinander, in dem Großmutter ihm sein Frühstück gebracht hatte. Anschließend machte er sich wieder an die Arbeit und begann den neuen Zauber zu kopieren, den Talanna ihm gegeben hatte. Doch seine Gedanken schweiften ab. Wo blieb nur Großmutter? Bisher war sie noch jeden Abend gekommen, hatte nach ihm gesehen und ihm Wasser und eine Schüssel Felsbrotbrei gebracht. Er lauschte, ob sie die Treppe herunterstieg – für ihr Alter bewegte sie sich noch erstaunlich gewandt –, aber alles, was er hörte, war der Regen, der auf das Dach des Museums herabrauschte. Er fiel jetzt gleichmäßig, das Rütteln hatte nachgelassen.
Wenn Großmutter bis morgen nicht zurückgekehrt war, dann würde er versuchen, Nemiz oder wenigstens Yoluan aufzuspüren, um seine Schriftrollen abzuliefern.
6
Flammen und Regen
A deens Träume waren voller schwarzer Flügel und Federn, die von einem grauvioletten Gewitterhimmel herabregneten und in Flammen aufgingen, kurz bevor sie den Boden berührten. Er irrte durch die Nacht und suchte nach Talanna. Manchmal glaubte er, ihre Gestalt im Dämmerlicht auszumachen, und rannte auf sie zu. Doch immer, wenn er sich ihr näherte, verschwand sie, wurde auseinandergefegt wie Blätter von einem plötzlichen Windstoß.
Er erwachte, nassgeschwitzt trotz der Kälte, und blinzelte einen Moment lang orientierungslos in die Dunkelheit. Noch roch er die brennenden Federn aus seinem Traum – oder war es etwas anderes? Die Glut im Feuerbecken war längst erloschen, nicht einmal mehr ein Funke glomm dort. War es nur sein Traum gewesen, der ihn geweckt hatte? Er richtete sich halb auf seiner Pritsche auf, lauschte. Um ihn herum herrschte Stille, bis auf das entfernte Heulen des Windes und das feine Prasseln von Regentropfen auf der Straße. Die Stadt musste die Gewitterfront endgültig hinter sich gelassen haben. Sie schwebte nun ruhig dahin, ihrem Landeplatz entgegen, einem Ziel, das wohl nur der Herrscher und sein Stab kannten.
Adeen holte tief Atem und raffte sich auf. Seine brennenden Augen verrieten ihm, dass er nur wenige Stunden geschlafen hatte, aber er würde keine Ruhe mehr finden. Er entzündete die Lampe, hängte sich seine Decke als Schutz vor der Kälte um die Schultern und tappte zur Tür. Wenn Großmutter erst spätabends gekommen war, hatte sie manchmal in einem Nebenzimmer übernachtet, und er beschloss nachzusehen, ob er sie dort fand.
Im Lichtkegel der Lampe tastete er sich auf nackten Sohlen vorwärts. Die Kälte des Bodens zog ihm bis in die Beine hinauf. Noch immer bildete er sich ein, Feuer zu riechen, und wenn seine Gedanken für einen Augenblick zu wandern begannen, glühten Flammen am Rand seines Gesichtsfelds auf. Aber sobald er den Kopf drehte und hinschaute, war dort nichts.
Es sind nur Träume,
beruhigte er sich.
Wer wäre an meiner Stelle nicht nervös? Alles wird gut, wenn ich diese Stadt endlich verlassen habe.
Er hatte das Zimmer erreicht, in dem Großmutter zu übernachten pflegte, und schob den Vorhang beiseite. Dass niemand dort war, wusste er bereits, bevor er den Raum mit der Lampe ausgeleuchtet hatte – die alte Frau verbreitete stets einen Geruch nach feuchtem Holz und Gewürzen, und aus dem Zimmer roch es nur nach Kälte. Auf der Schlafpritsche lag Großmutters Decke, noch zusammengefaltet.
Sie hätte es mir gesagt, wenn sie vorgehabt hätte, länger fortzubleiben,
dachte er.
Wenn ihr nur nichts zugestoßen ist!
»Adeen!«
Vor Schreck glitt ihm die Lampe aus den Fingern, prallte mit hellem Klirren auf dem Boden auf und
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