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Fluegellos

Fluegellos

Titel: Fluegellos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Cardinal
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ich noch nie wirklich gekonnt hatte.
    Ich seufzte und sah wieder auf. Mein Blick fiel auf eine Pinnwand, die an meinem Bücherregal hing. Sofort wurde der Kloß in meinem Hals größer und ich versuchte erfolglos, ihn hinunterzuschlucken. Ich hatte ein großes Blatt Papier am Kork befestigt, auf dem sich eine Strichliste mit vier Punkten befand. Ich fixierte den ersten und spürte, wie sich meine Gedanken in der Vergangenheit verloren.
    1. Go tt

4
     
    Es hatte alles mit einem Traum begonnen.
    Nachdem ich herausgefunden hatte, dass die Stimmen, die ich seit diesem Unfall hörte, reale Gedanken waren, hatte ich jahrelang nach dem Grund dafür gesucht. Ich hatte Bücher gewälzt, Professoren befragt, mir anonyme Hilfe geholt, Foren durchsucht, aber nichts davon hatte mir helfen können. Geschweige denn, dass es mich der Lösung auch nur Millimeter näher gebracht hatte.
    Dann kam dieser Traum.
    Es ist, rückblickend, verwunderlich, wie viel Einfluss ein Traum auf das eigene Bewusstsein haben kann. Alles, was man träumt, hat man in gewisser Weise erlebt, wenn auch nur geistig. Und das macht diese Geschehnisse greifbar und real. So war es nicht verwunderlich, dass ich aufwachte und alles, was ich in meinem Schlaf gesehen hatte, nachvollziehen konnte.
    Es war nicht viel. Ich erinnere mich noch an grelles Weiß, das mich umgab, während eine Stimme wie aus dem Off einen Psalm in einer fremden, vermutlich gar nicht existenten, Sprache aufsagte. Ich stand nur dort und blickte geradeaus, direkt in einen unendlichen Spiegel, der meinen kleinen Körper wiedergab. Doch je länger ich mich betrachtete, zerbrochen und verloren, wie ich da stand, desto mehr veränderte sich meine Erscheinung. Flügel sprossen aus meinem Rücken, riesige, schneeweiße Flügel, die mich schließlich schützend umgaben und jegliche Kälte aus mir vertrieben. Ich strich vorsichtig über die zarten Federn.
    Engelsflügel.
    Das war das erste Mal, dass mir dieser Begriff in den Sinn kam. Zu dem Zeitpunkt war es noch nichts Weiteres als ein flüchtiger Gedanke, unbedeutend, aber das sollte sich in den nächsten Stunden mehr als ändern.
    Engel. Ein Wort, das seinen Ursprung im Griechischen hat, im Begriff angelos . Bote. Gesandter.
    Als ich aus diesem Traum erwachte, verspürte ich seit etlichen Jahren wieder ein Gefühl in mir, das ich verloren geglaubt hatte. Selbstvertrauen. Das Wissen, seine Bestimmung zu kennen und einen Sinn in dieser Welt zu haben.
    Ich war ein Engel. Ein Bote.
    Es hatte einen Grund, wieso ich mitbekam, wenn sich zwei Menschen zueinander hingezogen fühlten. Ich sollte sie zusammenbringen. Denn wie viele Momente gibt es in dieser Welt, in der sich die Wege zweier Menschen für einen kurzen Augenblick kreuzen, zwei Menschen, die zu mehr bestimmt sind, die sich aber ebenso schnell wieder für immer trennen? Ein flüchtiges Lächeln in der Bahn, eine kurze Hilfeleistung, eine nette Geste – und das war es, obwohl da mehr hätte sein sollen?
    Der Mensch ist feige. Zu einem überwiegenden Teil ist der Mensch feige, weswegen er nur zu oft zu Hause landet, an diese kurzen Momente zurückdenkt und bereut, es dabei belassen zu haben. Wieso hat er sie nicht angesprochen? Wieso ist sie ihm nicht nachgelaufen, als er die Bahn verlassen und ihr auf dem Bahnsteig noch ein warmes Lächeln zugeworfen hat?
    Deswegen war ich da. Deswegen hatte ich die Fähigkeit bekommen, Gedanken zu hören und Menschen zu manipulieren.
    Zumindest war es das, was ich aus meinem Traum schloss. Und ich war dankbar dafür. Ich sah keinen Grund, es zu hinterfragen. Denn plötzlich hatte mein Leben wieder einen Sinn, plötzlich hatte ich wieder einen Sinn. Es war das schönste Gefühl, das ich seit meinem Unfall gehabt hatte.
    Nachdem mir das allerschönste Gefühl für immer verwehrt schien.
    Denn ich konnte nicht lieben. Ich hatte seit dem Unfall nicht mehr den geringsten Funken Liebe in mir verspürt, ganz egal, wie schön das Lächeln war, das mir zugeworfen wurde, wie verführerisch die leuchtenden Augen, wie warm die flüchtige Berührung.
    Es ließ mich alles kalt.
    Aber anscheinend war auch das eines der Geheimnisse meines Wesens. Ich sollte nicht lieben, vielleicht, weil es schwach machte, vielleicht, weil es ein weiches, menschliches Gefühl war, vielleicht aus gänzlich anderen Gründen.
    Fakt war: Ich konnte es nicht. Und an dem Morgen, an dem ich aus meinem Traum erwacht war, hatte ich einen Beschluss gefasst.
    Das, was ich nicht konnte, sollten wenigstens

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