Fluegelschlag
hatte sie die Frau für älter gehalten, vielleicht Ende vierzig. Doch wie sie da so vor ihr stand, ein bisschen aufgeregt und mit geröteten Wangen, korrigierte Juna ihre Schätzung um gut zehn Jahre nach unten. Sie sah genauer hin, doch obwohl sie sich sehr bemühte, etwas Engelhaftes konnte sie nicht an Heather entdecken. Wer sie auch war, ihrem neuen Schutzengel dürfte Juna hier nicht begegnet sein. Und auch die Feen hatten sich anders angefühlt . Ein Begriff, mit dem Juna versuchte, ihren sechsten Sinn ziemlich ungenügend, aber allgemein verständlich zu umschreiben.
Heather also fühlte sich durch und durch menschlich an, und vielleicht war genau dies ihre herausstechende Qualität. »Du wohnst natürlich erst einmal hier. Nur erzählen dürfen wir niemandem davon.« Heather schien ganz in ihrem Element zu sein. »Hast du Feinde?« Bevor Juna antworten konnte, sprach sie weiter. »Aber gute Freunde hat so ein Mädchen wie du doch sicher auch? Lass mal überlegen - wer könnte dir jetzt helfen?«
Es gab nur einen Namen, der ihr sofort einfiel. »Habt ihr hier irgendwo ein öffentliches Telefon?« Juna dachte an den
Fremden, der vorletzte Nacht ebenfalls in Heathers Pension gewohnt hatte. Was, wenn er das hiesige Telefon verwanzt hatte - oder womöglich die gesamte Pension? Ich werde offenbar paranoid , dachte sie.
Cathures Nummer kannte sie auswendig. Immer wieder hatte Arian sie gebeten, die Zahlen aus dem Gedächtnis zu wiederholen, und jetzt war sie ihm dankbar dafür.
Ihr zweiter Gedanke war gewesen, Sirona anzurufen, doch ihre Freundin hatte von einer gemeinsamen Reise nach Paris gesprochen, die sie mit ihrem geheimnisvollen himmlischen Begleiter machen wollte. Und sollte Juna ernsthaft in Gefahr sein, war Cathure vermutlich ohnehin der bessere Ansprechpartner, solange Arian in Gehenna gefangen war.
Heather unterbrach ihre Überlegungen. »Jetzt suche ich dir erst einmal ein paar frische Sachen heraus, und dann gehen wir ins Pub.« Junas skeptischen Blick beantwortete sie, ohne Luft zu holen. »Nicht, was du denkst. Dort gibt es das einzige Münztelefon in ganz Sleat.«
Es stellte sich heraus, dass Heather ebenfalls der Meinung war, Juna solle sich vorerst bedeckt halten, bis sie wussten, ob sich weitere Fremde in der Gegend aufhielten. Ein Einheimischer, davon war ihre neue Verbündete felsenfest überzeugt, hatte das Auto gewiss nicht in die Luft gejagt.
»Ich würde dich auch selbst nach Glasgow bringen, aber Mr Brown kommt erst in der nächsten Woche zurück, und wer soll sich bis dahin um die Pension und die Tiere kümmern?« Heather hatte einen Karton aus ihrem Schlafzimmer geholt, den sie jetzt mitten auf den Tisch stellte. Sie wühlte darin herum und entfaltete schließlich eine Jeans. »Die könnte passen. Du hast ungefähr die Figur meiner
Tochter. Sie lebt in London.« Heather klang stolz und gleichzeitig ein bisschen traurig, eben so, wie nur Mütter klingen können, deren Kinder in die Welt hinausgegangen waren, um dort ihr Glück zu machen.
Nachdem Juna geduscht hatte, zog sie sich an. Die Jeans passte ziemlich gut, sie war ein bisschen weit und hätte länger sein können, aber das fiel nicht weiter auf, denn sie versank fast in einem riesigen, mollig warmen Pullover, der ihr beinahe bis zum Knie reichte. Heather hatte sich entschuldigt und gesagt, er gehöre ihrem Mann, und Mr Brown, wie sie ihn konsequent nannte, war groß und kräftig, mit roten Haaren und einer laut klingenden Stimme; wie man sich eben einen Highlander vorstellte, dessen Vorfahren als gefährliche Nordmänner die Meere unsicher gemacht hatten. Nun trug sie also einen Wikingerpullover, und von ihrer Figur war nichts mehr zu sehen, als sie kurz darauf auf dicken Socken in die Küche zurückkehrte.
Überrascht blickte sie auf den dunklen Mopp, den Heather gerade kämmte. »Was ist das?«
»Je weniger Menschen wissen, dass du überlebt hast, desto sicherer bist du.« Damit stülpte sie Juna die Perücke über und zupfte sie zurecht. »Das Schwarz passt gut zu deinen Augen. Ich frage mich schon die ganze Zeit, welche Farbe sie wirklich haben.«
»Grün. Jedenfalls behaupte ich das immer.« Juna betrachtete sich im Spiegel. »Aber ich fürchte, sie können sich nicht so recht zwischen blassgrün und grau entscheiden.« Sie hoffte inbrünstig, dass Heather niemals die dritte Variante und damit das Feuer erblicken würde.
»Wie das Meer. Sehr praktisch, so kann auch niemand eine exakte Personenbeschreibung
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