Fluegelschlag
oder andere Bier gebremst, verloren sie bald die Lust an einem Wettlauf durch Glasgows Straßen. Sie bellten noch ein paar halbherzige Beleidigungen hinter ihr her, dann war Ruhe.
Ein Monster-Burger im Bauch gehörte nicht gerade zu den besten Voraussetzungen für einen Spurt, und Juna wurde langsamer. Aus der Dunkelheit einer Hausdurchfahrt erklang Applaus. »Sehr elegant gelöst«, sagte Lucian und trat in den Schein der Straßenlaternen. »Warum hast du sie nicht einfach geröstet?«
Juna zog eine Grimasse, die teils sein Auftauchen kommentierte, teils von den Seitenstichen herrührte, die ihre Flucht ihr eingebracht hatte. Auch wenn sie sich im Moment über ihn ärgerte, in Lucians Nähe fühlte sie sich sicher. Die Hände auf die Knie gestützt, das Gesicht hinter einem Vorhang langer Haare verborgen, atmete sie noch einige Male tief durch. Schließlich richtete sie sich auf. »Sag nicht, du hast zugesehen!«
»Aber ja. Und ich darf dir sagen, das war ein erstklassiger Tritt. Die Familienplanung dürfte für diesen jungen Herrn abgeschlossen sein. Wahrscheinlich ist das auch besser so.«
Juna konnte es nicht fassen. »Ähm, hallo? Ich war da gerade ein bisschen in Gefahr!«
»Du brauchtest keine Hilfe - oder täusche ich mich etwa?« Lucian legte die Hand wie einen Sonnenschutz über
die Augen und tat, als hielte er nach den Angreifern Ausschau. Die Straße war menschenleer. »Siehst du. Es ist niemand da, der dir deine Unschuld rauben will.«
»Da bin ich mir manchmal nicht so sicher«, sagte sie mit grimmiger Stimme und trat einen Schritt zurück. »Aber dafür ist es eh zu spät!«, fügte sie süffisant lächelnd hinzu.
»Das höre ich gern. Ich mag erfahrene Frauen.«
Juna erkannte, dass sie sich auf dünnes Eis gewagt hatte und überging seine Bemerkung. »Du könntest mir ein Taxi besorgen.«
»Schon da.« Ein Luftzug, ein einzigartiges Rauschen, dann stand er mit weit geöffneten Schwingen vor ihr.
Es war wie ein Zwang, Juna musste diese Flügel einfach berühren. Wie fremdbestimmt ging sie auf ihn zu … dann begriff sie. »Ich soll mit dir fliegen?« Sie ließ den Arm sinken. »Niemals.«
»Ach, komm schon. Es geht viel schneller, und ich will dir unbedingt noch etwas zeigen.«
»Und das geht nur beim Fliegen?«, fragte sie misstrauisch, wenn auch interessiert. Lucian kannte ihre Schwächen inzwischen fast zu gut. Neugier gehörte leider dazu.
Er lächelte siegessicher. »Nicht dabei, aber anschließend.«
»Und du versprichst, mich auf direktem Wege nach Hause zu bringen?«
»Selbstverständlich!«
»Also gut. Aber wehe, es ist ein Trick!« Sie ließ sich von ihm in seine Arme ziehen. Der Schreck saß ihr noch in den Knochen, und ihre Knie begannen auf einmal zu zittern. Vorsichtshalber schloss sie schnell die Augen, weil ihr beim Fliegen meist schwindelig wurde. Dann verlor Juna den Boden unter den Füßen.
21
D as Fliegen mit Lucian war anders als alles, was sie zuvor erlebt hatte. Juna ertappte sich bei dem Gedanken, ihn nach seinem Geheimnis zu fragen, damit Arian - und letztlich auch sie - in Zukunft davon profitieren konnten. Sogar die Landung war so weich, dass alles, was sie davon spürte, der feste Boden unter ihren Füßen war.
Erstaunt sah sie sich um. »Wir sind auf meiner Dachterrasse.«
Lucian entließ sie aus seiner Umarmung. »Hattest du etwas anderes erwartet?«
Juna schämte sich ein bisschen, denn sie hatte ihm tatsächlich nicht ganz getraut. »Keineswegs«, sagte sie deshalb forsch. »Und wo ist nun meine Überraschung?«
Bloß keine romantische Stimmung aufkommen lassen! , erhob sie umgehend zu ihrem neuen Mantra. Lucian hatte etwas Verwegenes an sich, das sie so noch nicht von ihm kannte.
»Schließ die Augen.«
»Schon wieder?« Sie hatte keine Lust. Lieber hätte sie ihn weiter angesehen. Seine stets wie vom Wind zerzausten Haare, die schmale, aristokratische Nase, die ihm etwas sehr Britisches gab. Seine helle Haut, die Lippen, die wie geschaffen schienen, sie zu küssen … rasch kniff sie die Augen ganz fest zu und dachte an Arian. Als sie endlich dessen himmelblaue Augen unter dem dunklen Haarschopf
heraufbeschworen hatte, fiel alle Furcht von ihr ab. Ich liebe dich! , flüsterte sie ihm über die unendliche Ferne, die sie voneinander trennte, zu. Und sie war fast sicher, dass er ihr gleichermaßen zärtlich antwortete. Mein Stern, halte durch. Ich bin bald wieder bei dir.
Solcherart gestärkt, streckte sie die Arme mit nach oben gedrehten
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