Fluegelschlag
Mit gespanntem Körper und konzentriertem Blick nahm er die Witterung auf. Dabei wäre es gar nicht nötig gewesen, denn in diesem Augenblick sahen sie eine junge Frau durch das Geschäft rennen, der ein Mann dicht auf den Fersen war. Im Laufen zog er eine Waffe und schoss.
Die Frau machte noch zwei, drei Schritte, dann blieb sie stehen, als wollte sie sich nach ihrem Verfolger umsehen. Doch stattdessen gaben ihre Knie nach, sie stürzte zu Boden. All dies schien wie eine präzise Zeitlupenaufnahme abzulaufen. Juna schrie, während die Frau fiel. Sie wollte zu ihr laufen, aber Arian hielt sie fest und zog sie hinter die Kleiderständer. Irgendetwas stimmt hier nicht!
Gabriel hatte seine lautlose Nachricht erhalten. »Ich kümmere mich darum! Bring du dein Mädchen in Sicherheit.« Damit warf er ihm etwas zu und rannte los.
Arian flüsterte: »Komm, wir müssen hier raus. Dieser Typ ist verrückt!«
Sicherheitsleute tauchten auf, drängten Neugierige zurück und verschlossen die vorderen Eingänge. Die Leute protestierten, einige wehrten sich, eine ältere Frau schlug mit ihrem Schirm nach den Männern, ein Kind weinte.
Inmitten des Tumults stand regungslos der Schütze, mit hängenden Schultern, die Waffe immer noch in der Hand. Was auch immer hier gerade geschah, Arian konnte nur darauf hoffen, dass Gabriel irgendwie Ordnung in das Chaos bringen würde. Er nahm Junas Hand und lief mit ihr geduckt zum nächsten Notausgang. Als er die Tür öffnete, schrillte der Alarm ohrenbetäubend. Juna schreckte zurück.
»Kümmere dich nicht darum. Weiter!«
Aber es war schon zu spät. Die Deckenbeleuchtung flimmerte, und die Tür schlug hinter ihnen zu. Ein Wachmann mit entsicherter Pistole tauchte vor ihnen auf. »Stehen bleiben!«
Sofort stellte sich Arian schützend vor Juna.
Trotz der schrecklichen Situation und obwohl sie nun auch noch von einem nervösen Wachmann bedroht wurden, fühlte sich Juna in Arians Nähe sicher - auch dann noch, als eine merkwürdige Veränderung mit ihm vorging. Er wirkte konzentriert, aufs Äußerste angespannt, aber keineswegs aufgeregt. Fast, als fühle er sich in seinem Element. Von dem aufgeräumten Mann, der ihre Lust auf Shopping mit freundlicher Ironie kommentiert und gutmütig mit ihr jedes zweite Schaufenster betrachtet hatte, war nichts mehr übrig, und plötzlich konnte sie sich gut vorstellen, dass er tatsächlich Soldat, Agent oder sonst jemand war, wie es Gabriel angedeutet hatte. Auf jeden Fall ein Mann, den man besser nicht verärgerte.
Arians Stimme war tiefer geworden und klang, als sei sie nicht für dieses Gebäude geschaffen. Seine Präsenz füllte den gesamten Flur aus, jede Ecke, jede Nische. »Geh!« Dieses eine Wort reichte aus, um eine geradezu unheimlich
anmutende Panik im Gesicht des Wachmanns auszulösen. Hatte er eben noch grimmig und zu allem entschlossen gewirkt, begann er jetzt plötzlich zu blinzeln. Der Lauf der Waffe zitterte in seiner Hand.
Fasziniert beobachtete Juna von ihrem sicheren Platz hinter Arian, wie ihm eine einzelne Träne über das Gesicht lief. Die Lippen wurden nahezu weiß und bewegten sich in einem lautlosen Gebet, und dann steckte er wie in Zeitlupe die Pistole zurück in ihr Holster, drehte sich um und ging davon. Einfach so. Anfänglich waren seine Schritte langsam, beinahe wie fremdbestimmt, doch dann wurden sie schneller, bis er zum Schluss rannte und am Ende des Gangs fast stürzte, während er panisch an der Klinke einer Stahltür riss, sie endlich öffnete und aus ihrem Blickfeld verschwand.
Der Spuk war vorüber. Sprachlos trat Juna vor Arian und sah ihn an.
»Nicht jetzt!« Arian zog sie durch eine weitere Tür ins Freie.
Obwohl sie vorgehabt hatte, eine Erklärung zu verlangen, schwieg sie vorerst. Als sie den Hinterhof des Shopping-Centers überquerten, fiel irgendwo hinter ihnen ein Schuss, gefolgt von einem dumpfen Aufprall.
»Iris?« Juna blinzelte gegen das Sonnenlicht. Die Gasse vor ihnen war jedoch menschenleer. »Ich hätte schwören können, dass ich dort hinten gerade meine Freundin gesehen habe.« Sie schüttelte den Kopf, als hoffte sie, damit die Gedanken ordnen zu können. Iris wanderte in diesem Augenblick durch die Highlands und konnte gar nicht in Glasgow sein.
Arian, der wusste, was geschehen war, ließ nicht zu, dass sie sich umdrehte. Nicht zum ersten Mal hörte er das schreckliche Geräusch eines aus großer Höhe herabstürzenden Menschen. Wenige von ihnen konnten Engel wie ihn
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