Fluegelschlag
Eitelkeit gehörte nicht zu seinen Lastern. Früher reichte aus, was er sich direkt nach dem Sturz irgendwo geliehen hatte. Mit dem Beginn der Neuzeit war die Bekleidungsfrage wichtiger geworden, und Arian hatte gelegentlich sogar einen Schneider aufsuchen müssen, um passende Garderobe zu finden. Mit den entsprechenden Zahlungsmitteln war dies nie ein Problem gewesen, und in den letzten Jahren fand sich in den Unterkünften, die alle Wächter für die Zeit ihres Aufenthalts auf der Erde benutzten, meist passende Garderobe. Arian hatte sich nie Gedanken darüber machen müssen. Nun befand er sich jedoch in einer anderen Situation. Ein offizieller Auftrag existierte nicht, und damit fehlten auch Wohnung und Geld. In Angelegenheiten des täglichen Lebens war offensichtlich seine
Kreativität gefragt. Dabei kam ihm zugute, dass Überwachungskameras Engel und alles, was sie bewegten, selbst dann nicht aufnahmen, wenn sie für das menschliche Auge sichtbar waren. Als er sich unbeobachtet glaubte, verband er sich mit dem Licht und wurde unsichtbar. Der Rest war ein Kinderspiel. Blitzschnell zog er sich um, und im Nu materialisierte er sich wieder hinter einem Regal.
»Bist du jetzt den Verlockungen der menschlichen Welt verfallen?«
Arian fuhr sprungbereit herum, obwohl er die Stimme sofort erkannt hatte. »Gabriel. Was machst du hier?«
Sein Expartner sah ihn prüfend an. »Das Gleiche wie du.«
»Einkaufen?« Arian glaubte ihm kein Wort.
»So kann man es auch nennen.« Gabriels Gesichtsausdruck wurde ernst.
Arian schwieg und wartete auf weitere Erklärungen. Er hoffte, dass Juna noch viel Zeit in möglichst weit entfernten Abteilungen verbringen würde.
»Hallo, das sieht gut aus.«
Warum hatte er sie nicht kommen hören?
»Willst du uns nicht vorstellen?« Gabriel musterte Juna interessiert, und für Arians Geschmack klang seine Stimme eine Spur zu sanft.
Nicht zum ersten Mal lag ihm ein Fluch auf der Zunge. Doch anstatt ihn auszusprechen und damit noch tiefer in einem Sumpf aus weltlichem Laster zu versinken, zwang er sich zu einem Lächeln, als er sich zu Juna umdrehte und betont neutral sagte. »Das ist Gabriel.«
»Wie wunderbar! Du hast jemanden gefunden, der dich kennt!« Sie zwängte sich zwischen dem Kleiderständer und
Arian hindurch und machte damit seinen Versuch zunichte, sie so gut wie möglich vor den Augen eines Wesens zu verbergen, dem er einst alles anvertraut hätte … mit Ausnahme einer Frau. Er hätte sich selbst ohrfeigen können. Natürlich freute Juna sich, dass mit Gabriel nun jemand auf den Plan getreten war, der ihn offenbar kannte und Licht in das Dunkel seiner Vergangenheit bringen konnte. Bedauerlicherweise handelte es sich dabei um Arians größten Alptraum. In seiner Panik glaubte er bereits zu hören, wie seine Lebensgeschichte von Gabriel offenbart wurde, als dieser lachte. Ein Lachen, das ihm bisher sympathisch und vertrauenswürdig vorgekommen war, doch in diesem Augenblick glaubte er, Verrat und Bosheit darin zu hören. Hilflos nahm er die Worte des anderen Engels wahr, ohne sie wirklich zu verstehen. »… auf der Durchreise. Der Mann hat kein Zuhause und lebt die meiste Zeit aus dem Koffer.«
»Aber die Amnesie …« Sie klang nicht vollständig überzeugt, und Arian gratulierte Juna insgeheim zu ihren Instinkten. Um einem Engel zu misstrauen, bedurfte es einer ausgezeichneten Intuition, die Menschen normalerweise fehlte. Sie war wirklich etwas Besonderes, und idiotischerweise machte ihn das glücklich.
»Das ist nach einem schrecklichen Erlebnis verständlich.« Der Humor in Gabriels Stimme widersprach seinen Worten deutlich. »Er wird darüber hinwegkommen, mach dir keine Sorgen.« Er zwinkerte Arian zu. »Bisher hat sich mein Kollege immer als Überlebenskünstler erwiesen.«
»Du bist auch in der Sicherheitsbranche?« Man konnte förmlich sehen, wie sich Juna gegen die Bilder von coolen Spionen und Agenten in ihrer Fantasie wehrte.
»Aber ja! Hat er das nicht erwähnt? Wir waren seit Ewigkeiten
Partner, nur eine Wendung des Schicksals ist schuld daran, dass wir uns so lange nicht gesehen haben. Aber das ist ja nun Geschichte, wir werden wieder ein Team. Habe ich recht, Arian?«
»Das wird sich noch herausstellen!«
In diesem Augenblick spürte er es. Gabriel musste die subtile Verschiebung in der Atmosphäre ebenfalls wahrgenommen haben. Alle Heiterkeit war aus seinem Gesicht verschwunden. Er hob das Kinn und wirkte wie ein ausgezeichnet trainierter Jagdhund.
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