Fluegelschlag
sich aufzulösen.
Als er nach ihrem Handgelenk fasste, um sie zurückzuhalten, griff er ins Leere. »Wem soll ich folgen?«
Wie eine Melodie schwebte ihre Stimme durch den Raum. »Dem dunklen Engel. Er allein kann dich ins Licht führen. Vertrau ihm.« Und damit war Babette verschwunden.
Nácar war gerade rechtzeitig gekommen, um die herzzerreißende Szene mitzuerleben. Ohne Zweifel war er Zeuge des stümperhaften Versuchs geworden, seinen neuen Schützling auf den rechten Weg zurückzuführen. Wahrscheinlich steckte der Schutzengel der Verstorbenen dahinter. Wer da als dunkler Engel bezeichnet wurde, wusste Nácar zwar nicht, aber er hatte keine Skrupel, von der Situation
zu profitieren. Anstatt ihn, wie ursprünglich geplant, mit leeren Versprechungen zu ködern, breitete er seine Schwingen aus und ließ John einen Hauch seiner einstigen Pracht sehen.
Der reagierte wie erwartet. Hin- und hergerissen von einer Skepsis, die in den Fundamenten des menschlichen Überlebenswillens wurzelte, und dem Wunsch nach Schutz und Anleitung vertraute er seine Zukunft und damit auch sein Leben dem dämonischen Verführer an.
Gut drei Monate später lehnte sich Nácar zurück und tupfte die elegant geschwungenen Lippen mit einer gestärkten Leinenserviette ab. Sein Tag war außerordentlich erfolgreich verlaufen. Er hatte bestens gespeist und durfte sich über die Gesellschaft einer schönen Frau freuen, die noch nicht ahnte, dass sie heute ihre Seele an ihn verlieren würde.
Seine Mundwinkel hoben sich, und wer ihn nicht kannte, sah in diesem Augenblick nichts als einen ausgeglichenen Mann, der sich seiner ungewöhnlich attraktiven Ausstrahlung sehr wohl bewusst war und dabei genau die Spur an Arroganz zeigte, die ihn für seine weiblichen Begleiterinnen unwiderstehlich machte.
In den vergangenen Wochen hatte er sich dank Johns Talent wunderbar unterhalten. Sobald er einen Schutzengel durch dessen Augen sah, war es ihm ein Leichtes, den Ahnungslosen auszuschalten. Nach diesem ersten Schritt zum Niedergang der schutzlos gewordenen Menschen war es meist nur eine Frage der Zeit, bis deren Seelen ausreichend korrumpiert waren, um von Nácar geerntet zu werden.
Natürlich musste er zuweilen Rückschläge einstecken. Es gab immer wieder Menschen, die auch ohne ihre himmlischen
Aufpasser aufrecht durchs Leben gingen und keine bemerkenswerten Sünden auf sich luden.
Die meisten jedoch gebärdeten sich wie der Abschaum, zu dem sie in seinen Augen auch gehörten: korrupt, egoistisch und rücksichtslos. Ihm war es vollkommen rätselhaft, warum diese unvollkommenen Kreaturen geschaffen worden waren. Etwa nur, um sie anschließend mithilfe von Schutzengeln vor ihren inneren Abgründen zu bewahren?
Vielleicht aber nur, um Abwechslung in das Spiel des Daseins zu bringen , dachte er. Die Dinge waren eben so, wie sie waren, und den großen Plan durchschaute niemand von ihnen, vielleicht inzwischen nicht einmal mehr der Erfinder selbst.
Nácar wollte sich nicht beklagen. Ihre Existenz war sein Glück, und er verstand es bestens, seine Genesung selbst vor dem Marquis zu verbergen.
Dabei kam ihm der Umstand zur Hilfe, dass dieser immer noch nicht besonders gut auf ihn zu sprechen war. Deshalb zitierte er Nácar höchst selten herbei, und dann auch nur, um ihn vor seinen hämisch grinsenden Konkurrenten eine unbedeutende Aufgabe zu übertragen.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte er sich darüber noch geärgert. Jetzt war er froh, seine Pläne weitgehend ungestört vom höfischen Leben Gehennas verfolgen zu können. Niemand ahnte, dass er einen Weg auf die Erde gefunden hatte und sich von den schweren Verlusten rasch erholte.
Gemeinsam mit der Legion, die er für den Marquis befehligt hatte, war ihm ein großer Teil seiner Magie abhanden gekommen. Um überhaupt wieder auf die Beine zu kommen, hatte er jedes einzelne Stück aus seiner Sammlung geschnürter Leiber um eine dunkle Seele erleichtern müssen und dennoch seine Heilung damit nur langsam vorantreiben
können. Doch dank des Engelsehers ging es ihm inzwischen deutlich besser, und dabei hatte die Zeit der Ernte gerade erst begonnen.
Seine Macht wuchs ebenso rasch wie seine Sammlung an Schutzengeln. Zu Beginn hatte er die kleinen Biester umgebracht, um sich an ihrer Seele zu laben. Aber bald begriff er, welchen außerordentlichen Schatz sie darstellten, und beschloss, die schönsten Exemplare fortan zu sammeln.
John allerdings machte ihm in letzter Zeit ein wenig Sorgen.
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