Fluegelschlag
Großes mit ihm vor.« Er zog so plötzlich an dem Seil, dass Pasiel mehr vor Schreck als vor Schmerz aufschrie. »Still, mein Kleiner. Still!« Nácar atmete tief ein, als läge ein appetitlicher Duft in der Luft, und kam näher, bis seine Nase fast den Nacken des Engels berührte. »Rieche ich da etwa Emotionen?« Blitzschnell leckte er ihm über das Gesicht. »Mhm, köstlich!« Dann machte er zwei Schritte zurück und zog am Seil, als prüfe er seine Schnürung. »Ich hätte da eine Idee«, sagte er beinahe beiläufig und fuhr mit der Verknotung fort. »Du weißt natürlich, was mit Engeln geschieht, die Gefühle haben?«
Die Tränen in Pasiels Augen waren ihm Antwort genug.
»Es ist nicht schön, verstoßen zu werden, das kannst du mir glauben! Ich weiß, wovon ich rede. Ich war einer der Ersten.« Als habe er sich in seinen Gedanken verloren, widmete er sich wortlos seiner Aufgabe, den Engel zu einem handlichen Paket zu schnüren.
Schließlich gab er Pasiel seine Stimme wieder, die er ihm zuvor genommen hatte, weil er - anders als die meisten seiner dämonischen Kollegen - Schreien und Wehklagen hasste. Noch schlimmer fand er es aber, durch dummes Geschwätz bei der Arbeit gestört zu werden. Und diese kunstvollen Verschnürungen waren sein ganzer Stolz. Stundenlang konnte er sich damit aufhalten, ein Opfer in jeder Hinsicht einzuwickeln und in immer neuen Positionen zu fixieren. Manchmal hängte er es aus purem Vergnügen für
ein paar Tage oder Wochen in seinen Gemächern auf und freute sich an der herrlichen Kunst, die er geschaffen hatte. Menschen blieben natürlich nicht so lange frisch, aber Engel wie dieser schon. Und alle paar Jahrhunderte gelang ihm ein besonderer Fang, und er erwischte einen Nachtmahr. Einmal war ihm sogar eine Fee ins Netz gegangen, die ihm seither als Apprentice diente … sofern er nicht anderweitig Verwendung für ihren Körper hatte. Es war eine ungewöhnlich begehrenswerte Fee, und Frauen waren Nácars zweite Leidenschaft. Immerhin hatte er einst seine Seele für eine Nacht mit diesen wunderbaren Geschöpfen verkauft, und anstatt es ihnen übelzunehmen, verehrte er sie. Letzteres war allerdings sein gut gehütetes Geheimnis.
»Wer … wer bist du?« Pasiels Stimme zitterte.
»Meine Manieren lassen zu wünschen übrig, ich bitte um Vergebung.« Nácar deutete eine höfische Verbeugung an. »Ich bin der erste General des großen Marchosias, auch unter dem Namen der Marquis bekannt. Meine Freunde nennen mich Nácar. Willst du mein Freund sein, kleiner Pasiel?«
Der Engel starrte ihn nur an. Natürlich hatte er von dem Marquis gehört und wusste, dass auch dessen Generäle über große Macht verfügten. Was er nicht geahnt hatte, war, dass sie sich frei unter den Menschen bewegen konnten.
Dämonologie war eines der wenige Fächer gewesen, das ihn interessiert hatte. Er hatte sich beim Skaten das Genick gebrochen und war anschließend vor die Entscheidung gestellt worden, in die Hölle geschickt zu werden oder zukünftig als Schutzengel zu arbeiten. Damals hatte er nur eine vage Vorstellung davon gehabt, was das Fegefeuer bedeutete,
aber nach einem kurzen Video, in dem die zu erwartenden Qualen recht plastisch dargestellt worden waren, hatte er sich für den Schutzjob entschieden. Dass man ihm dafür das Herz herausschneiden würde, hatte er erst später erfahren.
Die freiwilligen Schutzengel durften ihre Gefühle behalten. Aber Pasiel und seinen Mitrekruten, vorwiegend Kleinkriminelle wie er selbst, traute man offenbar nichts Gutes zu. Da war es allemal besser, wenn sie einfach nur die Regeln befolgten, ohne sich womöglich mit moralischen Entscheidungen herumquälen zu müssen.
Im Grunde war ihm das ganz recht gewesen. Außer Hass, Wut und manchmal auch Angst hatte er in seinem kurzen Leben sowieso kaum etwas gefühlt.
Man müsse sich das Gutsein erarbeiten, hatte ihr Lehrer gesagt, als irgendwann jemand gefragt hatte, warum die Engelmacher ihnen nicht gleich alles erforderliche Wissen einhauchten, wenn sie später sowieso ihre Herzen herausrissen. Außerdem sei die Abteilung unterbesetzt und seine Mitarbeiter völlig überlastet, weil es immer mehr Menschen gebe und man mit der Produktion von Schutzengeln gar nicht mehr nachkomme.
Produktion , dieses Wort hatte er wirklich verwendet, und Pasiel - der diesen neuen Namen gar nicht mochte -, Pasiel fand plötzlich, dass die Dämonen eigentlich zu beneiden seien.
Sie hätten das Böse im Blut, hieß es. Aber das hatte
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