Fluegelschlag
davon entfernt, irgendetwas zu begreifen, fragte Juna Iris: »Sind die immer so?«
Die Freundin lachte und begann die Rechnungskopien zu sortieren, die Juna achtlos auf dem Schreibtisch gesammelt hatte. »Gute Geschäfte. Was war hier los? Ist eine Epidemie ausgebrochen?«
»So etwas in der Art.«
»Dachte ich mir schon. Bei einem solchen Assistenten.« Nachdem sie den letzten Ausdruck kontrolliert und auf einen Stapel gelegt hatte, sah sie auf. »Nun mach dir mal keine Sorgen. Er wird den Drachen töten und als strahlender Held heimkehren.«
»Ich mache mir keine …« Juna brach ab. Sie wusste gar nicht so genau, was sie fühlte. Verwirrung traf es vermutlich am besten. Sie legte die Hände hinter sich auf den Behandlungstisch, und mit einem kleinen Hopser saß sie auf der kühlen Stahlfläche. Allmählich klärte sich der Nebel in ihrem Kopf. Sie ließ die Beine baumeln, wie sie es schon als Kind getan hatte, wenn sie über etwas nachdachte, dankbar für die Zeit, die Iris ihr zum Antworten ließ. »Ja. Nein. Ach …!« Als sich Juna selbst sprechen hörte, musste sie lachen. »Ich bin verliebt.«
»Ach nein!« Das Lächeln nahm Iris’ Worten die Schärfe. »Selbstverständlich bist du das.«
»Aber ich verstehe nicht …«
»… warum er so ist, wie er ist.« Iris lehnte sich vor. Die Ellbogen auf dem Schreibtisch, stützte sie den Kopf auf die gefalteten Hände. »Du hast den Gerechten heute kennengelernt. Es mag dir merkwürdig vorkommen, aber diese Gerechten unterscheiden sich gar nicht so besonders von den Wächtern.«
»Aber ich dachte, sie hätten alle keine Gefühle.«
»Das sollen wir glauben. Und vielleicht war es früher auch einmal so. Aber spätestens, seit damals die Abtrünnigen nach mehr Freiheiten verlangten, habe ich so meine Zweifel daran.«
»Du warst dabei?« Juna mochte sich nicht ausmalen, wie alt Iris sein musste, um den Fall der Engel miterlebt zu haben, der der Legende nach zur Entstehung der Hölle geführt hatte.
Iris setzte sich auf. »Fakt ist, dass sie sehr wohl Gefühle haben. Was ihnen fehlt, ist das Mitgefühl.«
»Ist dir klar, was du da beschreibst? So klingt das Profil eines typischen Hasstäters: nicht älter als dreißig, männlich, heterosexuell, ohne die Fähigkeit, sich in andere Lebenssituationen hineinzudenken.«
»In der Aufzählung fehlt noch einiges, zumindest, wenn es um Menschen geht. Entscheidend ist aber der letzte Punkt. Selbst wenn sie es könnten, würden die meisten dieser Engel es gar nicht wollen, denn sie haben ein festes Weltbild, an dessen Richtigkeit praktisch keiner von ihnen zweifelt. Sie sind gehorsam und führen ihre Befehle aus.«
»Ich weiß. Um das zu erreichen, reißt man den - wie sagt ihr? - Novizen das Herz heraus. Sie sollen gerecht entscheiden, ob jemand gut oder böse ist.«
»Nicht gerecht. Neutral.« Iris klang sehr sachlich, doch Juna war überzeugt, das Feuer der Emotion hinter ihrer Fassade brodeln zu sehen. »Vor dem ewigen Gericht bekommst du keine Gerechtigkeit. Du bekommst ein Urteil.«
»Und das ist euer Dilemma.« Juna verstand allmählich. Eine Rechtsprechung ohne Empathie mochte korrekt sein, sie wurde dem Leben jedoch selten gerecht. Die Fähigkeit, sich in die zu beurteilende Person einzufühlen, konnte ebenfalls zu Fehlurteilen führen. »Bedeutet das, es gibt keinen gerechten Gott?«
Iris riss entsetzt die Augen auf. »Natürlich nicht!« Dann lehnte sie sich zurück. »Das muss jeder für sich selbst herausfinden.«
»Ja, super! Das kommt mir irgendwie bekannt vor.« Als Juna noch zur Kirche gegangen war - bevor sie dort versucht hatten, ihren Teufel auszutreiben -, hatte sie diesen Satz häufig am Ende einer Diskussion über den Glauben gehört.
»Ob es dir gefällt oder nicht, so sehe ich die Sache jedenfalls.«
»Mag sein. Aber kann Arian dann wirklich lieben, wie er mir versichert hat? Oder bin ich nur eine Trotzreaktion auf ein paar Tausend Jahre Enthaltsamkeit?«
Jetzt lachte Iris laut. »So kommt es einem vor, oder? Ich meine die Sache mit der Enthaltsamkeit. Man sollte nicht meinen, dass jemand, der unberührt in die Dienste der Ewigkeit berufen wurde, ein derartig talentierter Liebhaber sein kann. Zumal, und das darf ich dir versichern, ein Wächter tatsächlich keine Gelegenheit hat, irgendwelche Erfahrungen in Liebesangelegenheiten zu machen.«
»Unberührt?« Als Iris zu einer Erklärung ansetzte, unterbrach
Juna sie eilig. »O warte! Das will ich gar nicht genauer wissen.«
Doch ihre
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