Fluegelschlag
natürlich war es nicht gerade nett gewesen, einfach ohne ein Wort aus dem Haus zu schleichen. Dass Iris sie auf jeden Fall daran zu hindern versucht hätte, Johns Hilferuf zu folgen, verdrängte Juna in diesem Augenblick.
Die einzige Telefonzelle in Maybole war defekt, und so stieg sie wieder in ihr Auto, um die letzten Meilen zur Burgruine zu fahren. Dort parkte sie am Straßenrand, denn eine Zufahrt gab es nicht. John musste über den schmalen Pfad vom Bauernhof weiter südlich zum Castle gegangen sein, sein Auto war nirgendwo zu sehen.
»Komm, Finn!«
Der Hund sprang heraus und sah sie erwartungsvoll an. Er war immer für ein Abenteuer zu haben, und ein nächtlicher Lauf durch ein Getreidefeld gehörte offenbar dazu.
Der Mondschein tauchte die Landschaft in silbernes Licht, und die hoch aufgerichtete Silhouette von Baltersan hob sich deutlich gegen den Sternenhimmel ab. Es war eine klare Nacht, und trotz der sommerlichen Temperaturen, die tagsüber geherrscht hatten, lag nun kühler Tau auf den Gräsern.
Die leichten Schuhe boten kaum Schutz; schon nach wenigen Schritten bekam Juna nasse Füße.
Finn hatte den Zaun, der unerwünschte Besucher von der Ruine fernhalten sollte, bereits erreicht und hob den Kopf. Offenbar hatte er eine Witterung aufgenommen.
Juna fand das Loch im Drahtgeflecht schnell wieder, durch das sie auch bei ihrem ersten Besuch geschlüpft war.
»John?«
Keine Antwort.
Sie ging die Anhöhe hinauf, bis sie das Mauerwerk erreichte. Behutsam tastete sie sich vor. Der Mond erhellte diese Seite der Ruine nicht, sie lag im Schatten. Steine rollten unter ihren Füßen, und um das Gleichgewicht zu halten, schloss sie ihre Augen. Plötzlich endete die Mauer. Sie versuchte sich zu erinnern: War hier ein Zugang gewesen? Ihre Finger fühlten an dem rauen Stein entlang bis zu einer Kante. Juna öffnete die Augen und lachte erleichtert auf. Vor ihr lag die Hügellandschaft in silbernem Licht, sie hatte das Ende des Gebäudes erreicht. Erleichtert bog sie um die Ecke. Hier war es zwar heller, einen Zugang konnte sie aber auch nicht finden.
Ihr Hund drängte sich jetzt dichter an ihr Bein und blieb nicht mehr stehen, um zu schnüffeln. Hatte er die Spur verloren?
Etwas Weiches berührte ihre Wange. Fast hätte sie aufgeschrien, obwohl sie in derselben Sekunde wusste, dass es nur ein Blatt gewesen war. Welch seltsame Ängste eine einsame Nacht hervorbrachte!
Auf ihrer weiteren Suche bog sie um die nächste Hausecke und erreichte endlich die Maueröffnung, nach der sie die ganze Zeit gesucht hatte. Wieder rief sie Johns Namen
- leise, als wolle sie niemand anderen aufscheuchen. Aber wer sollte außer ihrem Bruder sonst noch hier sein? Allmählich kamen ihr Zweifel, ob sich außer ihr und dem Hund überhaupt jemand in der Ruine befand. Trotzdem zögerte sie, den Spalt in der dicken Grundmauer zu betreten, als befände sich hinter diesem schmalen Zugang eine andere Welt.
Finn setzte sich auf die Hinterbeine, nicht zögerlich, sondern nachdrücklich. Als wollte er sagen: Mach, was du willst. Ich gehe da nicht rein.
»Oh, komm schon!« Juna knipste die Taschenlampe an, die sie die ganze Zeit wie eine Waffe mit steifen Fingern umklammert gehalten und trotzdem vergessen hatte, und folgte dem zuckenden Lichtstrahl ins Innere der Burgruine, die wie ein hohler Baum in den Nachthimmel ragte. Durch die fehlenden Etagen schien der Mond und erhellte niedrige Mauerreste. Juna erinnerte sich an ihre erste Besichtigung, während derer sie sich gefragt hatte, warum alles so erstaunlich aufgeräumt wirkte, fast, als habe jemand gefegt.
Ein Rascheln riss sie aus ihren Gedanken. Gleich darauf erklang ein Stöhnen.
»John! Wo bist du?« Sie lief in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren. Jede Nische, jeden Mauervorsprung leuchtete sie ab, bis der Lichtkegel endlich eine regungslose Gestalt erfasste, die unter dem mächtigen Gewölbe des alten Küchenkamins lag.
»John?« Am liebsten wäre Juna auf ihn zugestürzt, aber die stets präsente Stimme in ihrem Unterbewusstsein warnte sie, dass dies eine Falle sein könnte.
Sehr langsam näherte sie sich dem am Boden Liegenden.
Er schien sie nicht zu bemerken, jedenfalls rührte er sich nicht.
Dann ein Geräusch. Hinter ihr.
Juna fuhr herum, und der Lichtstrahl zuckte wild übers Mauerwerk.
Dämonenaugen leuchteten ihr entgegen und kamen schnell näher. Sie unterdrückte einen Schrei, wich zurück … bis ihr endlich auffiel, dass es sich um einen kleinen
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