Flüstern in der Nacht
heulte auf und die Fenster und die lockeren Knöpfe am Armaturenbrett vibrierten blechern. In der Talsohle angelangt, bremste er nicht an der roten Verkehrsampel, sondern drückte den Hupenknopf und raste über die Kreuzung. Er preschte über einen flachen Wasserabfluß in der Straße, eine breite Senke, die man bei fünfzig Stundenkilometern kaum bemerkte, die aber bei seinem Tempo wie ein gähnender Abgrund wirkte; den Bruchteil einer Sekunde lang flog er förmlich durch die Luft und stieß, obwohl er angeschnallt war, mit dem Kopf gegen das Wagendach. Der Jeep krachte auf das Pflaster zurück, ein vielstimmiger Chor klappernder und klirrender Laute und dazu die scharfe Warnung des gequälten Gummis. Er begann nach links abzurutschen, das Wagenheck schlitterte kreischend und quietschend über die Straße, und einen elektrisierenden Augenblick lang dachte er, er würde die Kontrolle über das Fahrzeug verlieren. Aber dann gehorchte ihm plötzlich das Steuer wieder; er war schon halb den nächsten Hügel hinaufgefahren, ohne richtig zu wissen, wie er dorthin gelangte.
Seine Geschwindigkeit war auf siebzig abgesunken, und er beschleunigte wieder auf neunzig. Er beschloß, nicht mehr schneller zu fahren. Er hatte nur noch eine kurze Strecke vor sich. Wenn er den Jeep um eine Straßenlaterne wickelte oder sich überschlug und sich dabei umbrachte, würde das Hilary nichts nützen.
Die Verkehrsregeln befolgte er immer noch nicht. Er fuhr viel zu schnell, und schnitt Kurven, kam immer wieder auf die Gegenspur und dankte Gott dafür, daß es keinen Gegenverkehr gab. Die Verkehrsampeln schienen sich alle gegen ihn verschworen zu haben, aber er ignorierte sie völlig. Daß man ihn wegen überhöhter Geschwindigkeit oder rücksichtsloser Fahrweise eine Strafe verpassen könnte, beunruhigte ihn nicht. Sollte man ihn aufhalten, würde er einfach seine Plakette zeigen und die uniformierten Beamten mit zu Hilarys Haus nehmen. Dabei hoffte er freilich, daß ihm die Chance erspart blieb, Verstärkung mitzunehmen, denn das würde nur bedeuten, anzuhalten, sich auszuweisen und Erklärungen abzugeben. Und dabei würde er wenigstens eine Minute verlieren. Und er hatte das untrügliche Gefühl, daß eine Minute bei Hilary schon über Leben und Tod entscheiden könnte.
Als sie Bruno Frye durch den Türbogen auf sich zukommen sah, dachte Hilary, sie müßte den Verstand verlieren. Der Mann war tot. Tot! Sie hatte ihm zwei Messerstiche verpaßt, sein Blut gesehen und in der Leichenhalle liegen sehen, kalt, gelbgrau, leblos. Man hatte eine Autopsie an ihm vorgenommen. Ein Totenschein war ausgestellt worden. Tote Männer laufen nicht. Und trotzdem schien er aus dem Grab zurückgekehrt, kam aus dem dunklen Eßzimmer geradewegs auf sie zu, der ungeladene Gast, wie man ihn sich ungeladener nicht vorstellen konnte, ein riesiges Messer in der behandschuhten Hand, erpicht darauf, das zu Ende zu bringen, womit er letzte Woche angefangen hatte; und dabei schien es absolut unmöglich, daß er jetzt hier war.
Hilary schloß die Augen und versuchte ihn wegzudenken. Aber als sie sich in der nächsten Sekunde zwang, wieder hinzusehen, stand er immer noch da.
Sie war unfähig, sich zu bewegen. Sie wollte wegrennen, aber all ihre Gelenke – Hüften, Knie, Knöchel – waren starr, wie gelähmt, und sie hatte nicht die Kraft, sie zu einer Bewegung zu zwingen. Sie fühlte sich schwach, gebrechlich wie eine alte, alte Frau; sie war überzeugt, wenn sie es irgendwie schaffte, die Sperre ihrer Gelenke zu lösen, und einen Schritt zu tun, würde sie zusammenbrechen. Sie brachte keinen Ton hervor, aber innerlich schrie sie. Frye blieb weniger als fünf Meter von ihr entfernt stehen, den einen Fuß mit einem Bündel Polsterung aus einem der zerstörten Sessel umgeben. Sein Gesicht schien lehmfarben und er zitterte heftig, befand sich offenbar am Rande der Hysterie. War es möglich, daß ein Toter hysterisch wurde? Sie mußte von Sinnen sein. Anders war das alles nicht vorstellbar. Völlig verrückt. Aber sie wußte, daß sie das nicht war.
Ein Gespenst? Sie glaubte nicht an Gespenster. Und außerdem müßte ein Geist substanzlos, durchsichtig oder wenigstens durchscheinend sein. Konnte eine Erscheinung so körperlich solide wie dieser sich bewegende tote Mann wirken, so überzeugend und erschreckend wirklich, wie er? »Miststück«, brummte er. »Stinkendes, verkommenes Miststück!«
Seine harte, ausdruckslose Stimme, die so klang, als hätte er
Weitere Kostenlose Bücher