Flüstern in der Nacht
hielt sie am Fuß der Treppe inne und wandte sich um. Frye stand mit dem Messer in der Hand da.
Ihre Blicke begegneten sich; Hilary konnte das Flackern der Unschlüssigkeit in seinen Augen entdecken. Frye bewegte sich auf sie zu, aber nicht mehr so zuversichtlich wie vorher. Er blickte nervös zur Tür. Es klingelte wieder.
An das Treppengeländer geklammert und sich rückwärts die Stufen hinaufbewegend, schrie Hilary um Hilfe, schrie, so laut sie konnte.
Und draußen brüllte eine Männerstimme: »Polizei!« Es war Tony.
»Polizei! Sofort aufmachen!«
Hilary hatte keine Ahnung, warum er gekommen war. Aber sie war noch nie so froh gewesen, die Stimme eines Menschen zu hören, wie sie jetzt froh war, die seine zu vernehmen. Frye blieb beim Wort »Polizei« stehen, schaute Hilary an und dann die Tür, dann wieder Hilary und versuchte, seine Chance abzuschätzen.
Sie hörte nicht auf, um Hilfe zu schreien. Glas explodierte mit einem scharfen Knall, der Frye überrascht zusammenzucken ließ; die scharfen Glassplitter klirrten auf dem Fliesenboden.
Obwohl sie von dem Punkt der Treppe aus, an dem sie stand, den Vorraum nicht sehen konnte, wußte Hilary, daß Tony das schmale Fenster neben der Haustür eingeschlagen hatte. »Polizei!«
Frye funkelte sie an. Sie hatte noch nie einen solchen Haß gesehen, wie er jetzt Fryes Gesicht verzerrte und seinen Augen den Glanz des Wahnsinns verlieh. »Hilary!« schrie Tony. »Ich komme wieder«, sagte Frye.
Der Tote wandte sich von ihr ab und rannte durch das Wohnzimmer aufs Eßzimmer zu, offenbar, um durch die Küche nach draußen zu entkommen.
Schluchzend hastete Hilary die paar Stufen hinunter. Sie stürzte zur Haustür, wo Tony durch die kleine zerbrochene Scheibe nach ihr rief.
Tony schob seinen Dienstrevolver ins Halfter zurück, als er aus dem hinteren Garten wieder in die hellerleuchtete Küche trat. Hilary stand an der Theke, wenige Zentimeter von ihrer Hand entfernt lag ein Messer.
Er schloß die Tür und meinte: »Im Rosengarten ist niemand.« »Sperr' sie ab«, sagte sie. »Was?«
»Die Tür. Sperr' sie ab.« Er versperrte sie.
»Und du hast überall nachgesehen?« fragte sie. »In jedem Winkel.« »Und auch an den Hauswänden?« »Ja.«
»In den Sträuchern?« »In jedem Busch.« »Und was jetzt?« fragte sie.
»Ich rufe im Präsidium an und sorge dafür, daß ein paar uniformierte Beamte herkommen und einen Bericht aufnehmen.« »Das wird nichts nützen«, beharrte sie. »Das kann man nie wissen. Vielleicht hat ein Nachbar am Abend jemanden hier herumlungern sehen. Oder jemand hat ihn beim Weglaufen beobachtet.«
»Muß ein Toter denn wegrennen? Kann ein Gespenst nicht einfach verschwinden, wenn es das will?« »Du glaubst nicht an Gespenster!«
»Vielleicht war es kein Gespenst«, sagte sie. »Vielleicht war es eine wandelnde Leiche. Eine ganz gewöhnliche wandelnde Leiche, wie man sie überall zu sehen bekommt.« »Du glaubst auch nicht an Untote.« »Tu' ich das nicht?« »Dafür bist du zu vernünftig.«
Sie schloß die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich weiß selbst nicht mehr, was ich glauben oder nicht glauben soll.« In ihrer Stimme lag ein Zittern, das ihn beunruhigte. Sie stand kurz vor dem Zusammenbruch. »Hilary ... weißt du wirklich, was du gesehen hast?« »Das war er.« »Aber wie kann das sein?«
»Es war Frye«, beharrte sie.
»Du hast ihn letzten Donnerstag in der Leichenschauhalle gesehen.«
»War er da tot?« »Natürlich war er tot.« »Wer hat das gesagt?« »Die Ärzte. Pathologen.«
»Es ist auch schon vorgekommen, daß Ärzte sich geirrt haben.«
»Wenn es darum geht, ob einer tot ist oder nicht?« »Man liest hier und da etwas darüber in den Zeitungen«, entgegnete sie. »Die beschließen, daß einer ins Gras gebissen hat. Sie unterschreiben den Totenschein; und dann setzt sich der Verblichene plötzlich auf dem Tisch des Leichenbestatters auf. Das kommt vor. Nicht oft. Ich gebe ja zu, daß das nicht alle Tage passiert. Ich weiß, daß das nur einmal unter Millionen Fällen passiert.«
»Eher einmal unter zehn Millionen.« »Aber es kommt vor.« »Nicht in diesem Fall.«
»Ich hab' ihn doch gesehen! Hier. In diesem Haus. Heute.« Er trat zu ihr, küßte sie auf die Wange und ergriff ihre Hand, die eiskalt war. »Hör' zu, Hilary. Er ist tot. Aufgrund der Stiche, die du ihm versetzt hast, hat Frye die Hälfte seines Blutes verloren. Man hat ihn in einer riesigen Blutlache gefunden. Er hat das ganze Blut
Weitere Kostenlose Bücher