Flüstern in der Nacht
mir sagen, daß das, was du heute nacht empfunden hast – nicht nur mit deinem Körper, sondern deinem Herzen und in deinem Bewußtsein –, willst du mir sagen, daß du das mit jedem anderen Mann hättest empfinden können?« Hilary versuchte, ihn einfach nicht zu beachten. Sie schaute ihn nicht an, legte die zweite Bluse in den Koffer, begann die dritte zusammenzufalten. Ihre Hände zitterten. »Nun, für mich war es etwas Besonderes«, fuhr Tony fort, fest entschlossen, sie aufzutauen. »Es stellte etwas Vollkommenes dar, besser, als ich das je für möglich gehalten hätte. Damit meine ich nicht nur den Sex. Das Zusammensein. Das Teilen. Du hast von mir Besitz ergriffen, wie das noch keine Frau vor dir geschafft hat. Du hast ein Stück von mir mitgenommen, als du letzte Nacht aus meiner Wohnung gingst, ein Stück meiner Seele, ein Stück meines Herzens, ein Stück von etwas, das für mein Leben wichtig ist. Ich werde für den Rest meines Lebens keine Ganzheit mehr darstellen, wenn ich nicht mit dir zusammen bin. Wenn du also glaubst, ich lasse dich einfach weggehen, dann steht dir noch eine große Überraschung bevor. Ich werde um dich kämpfen, dich festhalten, Lady.« Sie hatte aufgehört, die Bluse zusammenzufalten. Sie stand einfach da, hielt sie in der Hand und starrte an ihr hinunter. Er hätte alles darum gegeben, zu erfahren, was sie in diesem Augenblick dachte. »Ich liebe dich«, sagte er.
Ohne den Blick von der Bluse zu wenden, erwiderte sie mit zitternder Stimme: »Wird denn je ein Versprechen gehalten? Eines, das zwei Menschen einander geben? Wenn jemand sagt: ›Ich liebe dich‹, ist es ihm damit wirklich ernst? Wenn meine Eltern im einen Augenblick von Liebe plappern und mich im nächsten Augenblick grün und blau schlagen konnten, wem, zum Teufel, kann ich denn da trauen? Dir? Warum sollte ich? Wird es nicht auch mit Enttäuschung und Schmerz enden? Endet es denn nicht immer so? Ich bin allein besser dran. Ich kann mich um mich selbst kümmern. Ich komme schon klar. Ich will einfach nicht wieder verletzt werden. Ich bin all die Verletzungen endgültig leid. Ich werde keine Zusagen mehr machen, keine neuen Risiken auf mich nehmen. Ich kann das einfach nicht, schaffe es nicht!«
Tony ging zu ihr, packte sie an den Schultern, zwang sie, ihn anzusehen. Ihre Unterlippe bebte. In ihren wunderschönen Augen sammelten sich Tränen, aber sie hielt sie zurück. »Du empfindest dasselbe für mich, was ich für dich empfinde«, erklärte er. »Ich weiß es. Ich fühle es. Ganz genau weiß ich es. Du wirst dich nicht von mir abwenden, nur weil ich an deiner Geschichte Zweifel hegte. Das hat überhaupt nichts damit zu tun. Du wendest dich von mir ab, weil du im Begriff bist, dich zu verlieben, und davor hast du Angst, Angst wegen deiner Eltern. Angst vor dem, was sie dir angetan haben. Angst vor all den Schlägen, die du einstecken mußtest. Und Angst vor vielen anderen Dingen, von denen du mir noch nichts erzählt hast. Du fliehst vor deinen Gefühlen, weil deine armselige Kindheit dich emotionell zum Krüppel machte. Aber du liebst mich, und das weißt du auch.« Sie brachte kein Wort hervor. Sie schüttelte nur den Kopf: »Nein, nein, nein!«
»Sag' nur nicht, daß es nicht so ist«, erwiderte er. »Wir brauchen einander, Hilary. Ich brauche dich, weil ich mein ganzes Leben lang Angst hatte, mit Dingen Risiken einzugehen – mit Geld, meiner Karriere, meiner Kunst. Ich hatte immer Angst, etwas zu ändern. Und jetzt, seit es dich gibt, seit du in mein Leben getreten bist, bin ich bereit, vorsichtig ein paar Schritte in die Unsicherheit zu wagen, weg von der Sicherheit meines Beamtendaseins. Und wenn ich jetzt ernsthaft daran denke, mir mit Malen meinen Lebensunterhalt zu verdienen, dann bekomme ich plötzlich nicht mehr gleich Schuldgefühle oder halte mich für faul wie früher. Ich höre plötzlich nicht mehr die endlosen Vorträge meines Vaters über Geld, Verantwortungsbewußtsein oder die Grausamkeit des Schicksals. Wenn ich von einem Leben als Künstler träume, so fange ich jetzt nicht mehr automatisch an, all die finanziellen Krisen wieder durchzuleben, die unsere Familie mitgemacht hat, die Zeiten, in denen es nicht genug zu essen gab, und wir fast kein Dach über dem Kopf hatten. Endlich bin ich imstande, das alles hinter mir zu lassen. Ich bin noch nicht stark genug, meinen Job aufzugeben und einfach abzuspringen. Herrgott, nein! Jetzt noch nicht. Aber seit es dich gibt, kann ich mir
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