Flüstern in der Nacht
Furcht vor dem wirklich großen Erdbeben, das alle anderen Beben in den Schatten stellte, war die tiefere Ursache dafür, daß die Kalifornier über kleinere Erdstöße und Beben Witze rissen. Würde man sich dauernd mit der Möglichkeit der Katastrophe befassen und allzu lange über die Heimtücke der Erde nachdenken, so könnte einen diese Furcht allmählich lahmen. Aber das Leben mußte ohne Rücksicht auf Risiken weitergehen. Schließlich konnte das große Erdbeben noch hundert Jahre auf sich warten lassen. Genausogut schien es möglich, daß es nie kommen würde. Schließlich starben in diesen schneereichen eiskalten Wintern im Osten mehr Menschen als in Kalifornien an Erdbeben. Und es war ebenso gefährlich, im Hurricane-Land Florida oder in den von Tornados geplagten Ebenen des mittleren Westens zu leben, als sein Haus auf der San-Andreas-Falte zu bauen. Und in einer Zeit, in der jede Nation auf dem ganzen Erdball sich bemühte, Kernwaffen zu besitzen, schien die Wut der Erde weniger furchterregend als der kleinliche Zorn der Menschen. Um das Erdbeben in die richtige Perspektive zu rücken, machten sich die Kalifornier darüber lustig, fanden schließlich an der potentiellen Katastrophe eine komische Komponente und taten so , als hätte das Leben auf einem instabilen Boden für sie überhaupt keine tiefere Bedeutung.
Aber an jenem Dienstag, wie an allen anderen Tagen, wenn die Erde sich spürbar bewegte, übertraten auch mehr Leute als üblich die Geschwindigkeitsvorschrift auf den Freeways, beeilten sich, zur Arbeit oder zu ihrem Vergnügen zu kommen, eilten nach Hause zu ihren Familien, ihren Freunden, ihren Liebsten; und keiner von ihnen merkte dabei tatsächlich, daß er etwas schneller lebte, als er das noch am Montag getan hatte. Mehr Männer verlangten die Scheidung von ihren Frauen als an einem Tag ohne Erdbeben. Mehr Frauen verließen ihre Männer. Mehr Leute beschlossen, zu heiraten. Eine größere Zahl von Spielern, mehr als üblich, würde Pläne schmieden, um ein Wochenende in Las Vegas zu verbringen. Prostituierte würden einen Aufschwung in ihrem Gewerbe feststellen. Und höchstwahrscheinlich nahm auch die sexuelle Aktivität zwischen Eheleuten, unverheirateten Paaren und unerfahrenen Teenagern zu, die zum ersten Mal zu experimentieren begannen. Es gab keine schlüssigen Beweise für diesen erotischen Aspekt der seismischen Aktivität. Aber im Lauf der Jahre hatten Soziologen und Verhaltenspsychologen in mehreren Zoos beobachtet, daß die Primaten – Gorillas, Schimpansen und Orang-Utans – in den Stunden nach starken und mittleren Erdbeben sich geradezu hektisch paarten; man durfte also vernünftigerweise annehmen, daß, zumindest was die primären Fortpflanzungsorgane anging, der Mensch sich nicht wesentlich von seinen primitiven Vettern unterschied.
Die meisten Kalifornier gaben sich dem selbstgefälligen Glauben hin, an das Leben im Erdbebenland perfekt angepaßt zu sein; aber auf eine ihnen gar nicht bewußte Art formte und veränderte sie die psychologische Belastung fortwährend. Die Furcht vor der drohenden Katastrophe war ein allgegenwärtiges Wispern, das das Unterbewußtsein beeinflußte, ein sehr einflußreiches Wispern, das das Verhalten und den Charakter der Menschen in stärkerem Maße formte, als sie das zugeben würden. Natürlich handelte es sich nur um ein Wispern unter vielen.
Hilary überraschte die Reaktion der Polizei bezüglich ihrer Geschichte keineswegs; sie gab sich große Mühe, sich nicht darüber zu ärgern.
Weniger als fünf Minuten, nachdem Tony aus dem Nachbarhaus angerufen hatte, etwa fünfunddreißig Minuten vor dem morgendlichen Erdbeben, erschienen vor Hilarys Haus zwei uniformierte Beamte in einem schwarzweiß lackierten Streifenwagen mit blitzenden Lichtern, aber ohne Sirene. Mit typisch gelangweilter, professioneller, routinemäßiger Höflichkeit nahmen sie pflichtgemäß Hilarys Version des Vorfalls auf, machten die Stelle ausfindig, an der der Eindringling in das Haus eingebrochen war (wieder ein Fenster im Arbeitszimmer), fertigten eine Liste der Schäden im Wohn- und Eßzimmer an und sammelten all die anderen Informationen, die in einen Bericht dieser Art gehörten. Weil Hilary erklärte, der Angreifer habe Handschuhe getragen, entschieden sie sich dafür, niemanden vom Labor für Fingerabdrücke kommen zu lassen. Ihre Behauptung, der Mann, der sie bedrohte, sei derselbe gewesen, den sie letzten Donnerstag getötet zu haben glaubte,
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