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Flüstern in der Nacht

Flüstern in der Nacht

Titel: Flüstern in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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vorstellen, wirklich Maler zu werden, kann mir das ernsthaft vorstellen; und das konnte ich vor einer Woche noch nicht.« Jetzt strömten die Tränen über ihr Gesicht. »Du bist so gut«, meinte sie. »Du bist ein wunderbarer, einfühlsamer Künstler.«
    »Und du brauchst mich genauso, wie ich dich brauche«, bekräftigte er. »Ohne mich wirst du dir noch ein dickeres Schneckenhaus bauen, noch härter, und am Ende wirst du allein und verbittert darin leben. Du bist immer imstande gewesen, mit Sachen Risiken einzugehen – mit Geld, deiner Karriere. Aber du hast es nicht fertiggebracht, mit Menschen etwas zu riskieren. Verstehst du? In der Beziehung sind wir gegensätzlich, ergänzen aber einander. Wir können einander so viel beibringen. Wir können uns gegenseitig dabei helfen, weiterzuwachsen. Es scheint, als wäre jeder von uns nur die Hälfte einer Person gewesen – und fand nun seine andere Hälfte. Ich bin diese Hälfte für dich und du für mich. Unser ganzes Leben lang haben wir gesucht, im Dunkel herumgetastet, bemüht, einander zu finden.«
    Hilary ließ die gelbe Bluse fallen, die sie in den Koffer legen wollte, und warf sich in seine Arme. Tony drückte sie an sich, küßte ihre salzigen Lippen. Ein oder zwei Minuten lang hielten sie einander umfangen. Keiner brachte ein Wort hervor. Schließlich sagte er: »Sieh' mir in die Augen.« Sie hob den Kopf. »Du hast so dunkle Augen.« »Sag' es mir«, sagte er. »Was soll ich dir sagen?« »Was ich hören möchte.« Sie küßte ihn auf die Mundwinkel. »Sag' es mir«, drängte er. »Ich ... liebe dich.« »Noch einmal.«
    »Ich liebe dich, Tony. Wirklich. Ganz bestimmt.« »War das so schwer?« »Ja. Für mich schon.«
    »Je öfter du es sagst, desto leichter wird es werden.« »Ich werde bestimmt üben«, versprach sie. Sie lächelte und weinte gleichzeitig.
    Tony spürte eine zunehmende Beengung in seinem Inneren, so als müßte seine Brust gleich vor Glück zerspringen. Trotz der schlaflosen Nacht, die hinter ihm lag, war er voll Energie, hellwach und sich dieser einmaligen Frau, die in seinen Armen lag, ganz bewußt – der Wärme, die von ihr ausging, ihres herrlichen Körpers, dem letzten Hauch ihres Parfüms und dem angenehmen animalischen Duft ihres Haares, ihrer Haut. »Jetzt, wo wir einander gefunden haben, wird alles gut werden«, meinte er.
    »Erst wenn wir wissen, was mit Bruno Frye ist. Oder wer auch sonst er sein mag. Was auch immer er sein mag. Nichts wird gut sein, solange wir nicht wissen, daß er endgültig tot und begraben ist, ein für allemal.«
    »Wenn wir zusammenhalten«, meinte Tony, »dann überstehen wir alles. Solange ich da bin, bekommt er dich nicht zu fassen, das verspreche ich dir.«
    »Ich vertraue dir. Aber ... ich habe ... trotzdem Angst vor ihm.«
    »Hab' keine Angst.«
    »Ich kann nichts dafür«, sagte sie. »Außerdem ist es wahrscheinlich gar nicht so dumm, Angst vor ihm zu haben.« Tony dachte an die Verwüstung unten im Haus, an die spitzen Holzpflöcke und die Säckchen mit Knoblauch, die man in Fryes Fahrzeug gefunden hatte, und kam zu dem Schluß, daß Hilary recht hatte. Es war richtig, vor Bruno Frye Angst zu haben.
    Ein wandelnder Toter? Sie schauderte und steckte damit Tony an.

TEIL ZWEI -  Die Lebenden und die lebenden Toten
     
     
     
    Das Gute wispert. Das Böse schreit.
    Tibetanisches Sprichwort
     
    Das Gute schreit. Das Böse wispert.
    Balinesisches Sprichwort

5
     
     
    Am Dienstagmorgen wurde Los Angeles zum zweiten Mal im Lauf von acht Tagen von einem Erdbeben mittlerer Stärke erschüttert. Nach der Messung von Cal Tech erreichte es den Wert von 4,6 auf der offenen Richter-Skala und dauerte genau dreiundzwanzig Sekunden.
     
    Größerer Schaden entstand nicht; die meisten Angelenos erwähnten das Beben nur, um darüber ihre Witze zu reißen. Einer ging so, daß die Araber einen Teil des Landes beschlagnahmt hätten, um damit rückständige Ölschulden einzutreiben. Und am Abend meinte Johnny Carson im Fernsehen, die seismische Störung sei von Dolly Parton verursacht worden, die zu plötzlich aus dem Bett gesprungen sei. Für neuzugezogene Bewohner freilich schienen diese dreiundzwanzig Sekunden überhaupt nicht komisch, und sie konnten sich nicht vorstellen, darüber Witze zu reißen, daß die Erde unter ihren Füßen bebte. Ein Jahr später würden sie ihre eigenen Witze dazu erfinden.
    Bis das wirklich große käme.
    Die nie ausgesprochene, aber im tiefsten Unterbewußtsein schlummernde

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