Flüstern in der Nacht
aber das hat sie nicht getan. Sie hat ihm ihr Herz und ihr Heim geöffnet.«
»Aber er ist doch ihr Sohn«, meinte Hilary. »Adoptiert«, entgegnete Joshua. »Das stand nicht in der Zeitung«, meinte Tony. »Das liegt auch weit, weit zurück«, fuhr Joshua fort. »Bruno ist bis auf wenige Monate seines Lebens immer ein Frye gewesen. Manchmal schien er mir viel eher ein Frye zu sein, als Katherines leibliches Kind es je hätte sein können. Seine Augen haben dieselbe Farbe wie die Katherines. Und dann besaß er auch dieselbe kalte, introvertierte, grüblerische Persönlichkeit wie Katherine – und wie Leo sie besessen haben soll.« »Wenn er ein Adoptivkind war«, meinte Hilary, »dann besteht doch auch die Möglichkeit, daß er tatsächlich einen Bruder hat.«
»Nein«, antwortete Joshua, »den hatte er nicht.« »Wie können Sie sich dessen so sicher sein? Vielleicht hat er sogar einen Zwillingsbruder!« beharrte Hilary, die der Gedanke zu erregen schien.
Joshua runzelte die Stirn. »Sie meinen, Katherine hätte ihn adoptiert, ohne zu wissen, daß es möglicherweise einen Zwillingsbruder gibt?«
»Das würde immerhin erklären, wieso plötzlich ein Doppelgänger von ihm auftauchte«, meinte Tony. Joshuas Stirn runzelte sich noch mehr. »Aber, wo soll sich dieser geheimnisvolle Zwillingsbruder all die Jahre versteckt gehalten haben?«
»Wahrscheinlich ist er bei einer anderen Familie aufgewachsen«, meinte Hilary, eifrig bemüht, ihre Theorie auszubauen. »In einer anderen Stadt, in einem anderen Bundesstaat.« »Oder vielleicht sogar in einem anderen Teil des Landes«, fügte Tony hinzu.
»Wollen Sie mir etwa weismachen, daß Bruno und sein langverschollener Bruder sich irgendwann irgendwie gefunden hätten?«
»Möglich wäre das schon«, entgegnete Hilary. Joshua schüttelte den Kopf. »Möglich vielleicht schon, aber ganz sicher nicht in diesem Fall. Bruno war ein Einzelkind.« »Sind Sie da ganz sicher?«
»Ohne jeden Zweifel«, antwortete Joshua. »Die Umstände seiner Geburt sind schließlich kein Geheimnis.« »Aber Zwillinge ... die Theorie wäre so einleuchtend«, beharrte Hilary.
Joshua nickte. »Ich weiß. Das ergäbe eine bequeme Lösung, und ich wäre wirklich an einer bequemen Lösung interessiert, damit wir diese Geschichte bald zu Ende brächten. Glauben Sie mir, es macht mir keinen Spaß, Ihre Theorie zu zerpflücken.«
»Vielleicht können Sie das auch gar nicht«, entgegnete Hilary. »Doch.«
»Versuchen Sie es«, ermunterte ihn Tony. »Sagen Sie uns, wo Bruno herkam, wer seine leibliche Mutter war. Vielleicht zerpflücken wir dann Ihre Geschichte. Vielleicht ist sie gar nicht so klar und unwiderlegbar, wie Sie glauben.«
Als Bruno in dem Bungalow schließlich alles zerfetzt und zerschlagen hatte, bekam er sich wieder in die Gewalt; seine hitzige, bestialische Wut kühlte sich allmählich ab; übrig blieb ein weniger zerstörerischer menschlicher Zorn. Nach Absinken seiner Wut unter den Siedepunkt stand er noch eine Weile inmitten all der Verwüstung da; er atmete schwer, der Schweiß tropfte ihm von der Stirn und stand in glänzenden Tropfen auf seiner nackten Haut. Schließlich ging er ins Schlafzimmer und zog sich an. Fertig bekleidet stand er nun am Fußende des blutigen Bettes und starrte die brutal zugerichtete Leiche der Frau an, die er als Sally gekannt hatte. Jetzt, zu spät, war ihm klar, daß es sich bei ihr nicht um Katherine handelte. Sie stellte keine weitere Reinkarnation seiner Mutter dar. Das alte Miststück war nicht aus Hilary Thomas' Körper in den Sallys übergegangen; das konnte sie nicht, solange Hilary nicht gestorben war. Bruno konnte sich jetzt nicht mehr vorstellen, warum er etwas anderes hatte annehmen können; seine völlige Verwirrung überraschte ihn. Aber er empfand keinerlei Schuldgefühl für das, was er Sally angetan hatte. Selbst wenn sie nicht Katherine verkörperte, so war sie doch eine von Katherines Helferinnen gewesen, eine Frau aus der Hölle, in Katherines Diensten stehend. Sally gehörte auch zu seinen Feinden, war eine Verschwörerin gewesen in dem Komplott, das auf seinen Tod abzielte, dessen schien er ganz sicher. Vielleicht gehörte sie sogar selbst zu den Untoten. Ja, natürlich, davon war er jetzt sogar felsenfest überzeugt. Ja. Sally verkörperte dasselbe wie Katherine: eine tote Frau in einem neuen Körper, eines jener Ungeheuer, die nicht in ihrem Grab bleiben wollten. Sie gehörte zu denen. Ein Schauder überlief ihn. Er gelangte
Weitere Kostenlose Bücher