Flüstern in der Nacht
blieben nur noch wenige Wochen, höchstens ein Monat. Katherine fuhr mit dem Kind nach San Franzisko, damit die Mutter die wenige Zeit, die ihr noch blieb, in Gesellschaft ihres Babys verbringen sollte. In ihren letzten Tagen traf Mary all die notwendigen Vorkehrungen, um Katherine das Sorgerecht für das Baby zu übertragen. Marys Eltern waren bereits gestorben; sonst besaß sie keine Verwandten, die Bruno hätten aufziehen können. Hätte Katherine ihn nicht zu sich genommen, wäre er entweder in ein Waisenhaus oder zu Pflegeeltern gekommen, von denen man nicht wissen konnte, ob sie gut zu ihm gewesen wären. Mary starb; Katherine zahlte das Begräbnis und kehrte dann mit Bruno nach St. Helena zurück. Sie zog den Jungen auf, als wäre er ihr eigenes Kind, wobei sie sich weniger wie ein Vormund, sondern eher wie eine besorgte liebende Mutter verhielt. Sie hätte sich ein Kindermädchen oder sonstige Hausangestellte leisten können, verzichtete aber darauf; sie wollte nicht, daß irgendein anderer sich um das Kind kümmerte. Leo besaß keine Hausangestellten, und Katherine schien ein ebenso unabhängiger Mensch zu sein wie ihr Vater. Sie kam allein gut zurecht. Bruno war vier Jahre alt, als sie in San Franzisko den Richter aufsuchte, der ihr damals auf Marys Bitte hin das Pflegerecht für Bruno zugestanden hatte, und der jetzt offiziell der Adoption zustimmte. Nun trug Bruno den Familiennamen Frye.
In der Hoffnung, bei Joshuas Bericht irgendwelche Hinweise auf eventuelle Ungereimtheiten zu erfahren, hockten Hilary und Tony gespannt am Eßtisch, ihre Köpfe auf die Arme gestützt. Jetzt lehnten sie sich in ihren Sesseln zurück und griffen nach ihren Weingläsern.
»Es gibt viele Leute in St. Helena, die sich gut an Katherine Frye erinnern«, meinte Joshua. »Sie sehen in ihr die wohltätige Frau, die einen armen Findling aufnahm, ihm ihre Liebe und obendrein ein beträchtliches Vermögen schenkte.« »Es gab also keinen Zwillingsbruder«, unterbrach ihn Tony. »Ganz sicher nicht«, erklärte Joshua.
Hilary seufzte. »Womit wir wieder genauso schlau wären wie vorher.«
»An dieser Geschichte stimmen mich ein paar Punkte nachdenklich«, meinte Tony. Joshua hob die Brauen. »Was denn?«
»Nun, wir machen es selbst in unserer heutigen aufgeklärten Zeit der mehr oder weniger liberalen Vorstellungen einer alleinstehenden Frau verdammt schwer, ein Kind zu adoptieren«, behauptete Tony. »Damals, 1940, muß das nahezu unmöglich gewesen sein.«
»Ich glaube, das kann ich erklären«, erwiderte Joshua. »Wenn mich mein Gedächtnis nicht ganz trügt, dann hat Katherine mir einmal erzählt, sie und Mary hätten die Schwierigkeiten vor Gericht schon vorhergesehen. Also haben sie ein wenig geflunkert. Sie behaupteten, Katherine sei Marys Cousine und damit ihre engste noch lebende Verwandte. Wollte in jener Zeit eine nahe Verwandte ein Kind adoptieren, so stimmten die Gerichte in den meisten Fällen zu.« »Und der Richter hat das einfach so hingenommen, ohne die Verwandtschaft zu überprüfen?« fragte Tony. »Sie dürfen nicht vergessen, daß die Richter sich 1940 viel weniger in Familien-angelegenheiten einmischten, als sie das heute tun. In jener Zeit haben die Amerikaner den Behörden noch keine so wichtige Rolle zugestanden. Im allgemeinen betrachtet schien diese Zeit viel besser zu sein als heute.« Hilary wandte sich an Tony und meinte: »Du sagtest, einige Dinge würden dich stören. Was denn noch?« Tony strich sich müde übers Gesicht. »Das andere läßt sich nicht so leicht in Worte kleiden. Es ist mehr ein Verdacht, aber die ganze Geschichte klingt ... einfach zu glatt.« »Erfunden, meinen Sie?« fragte Joshua. »Ich weiß nicht«, entgegnete Tony. »Das kann ich wirklich nicht sagen. Aber nach so langer Zeit im Polizeidienst entwickelt man für solche Dinge einen siebten Sinn.« »Und etwas kommt dir faul vor?« fragte Hilary. »Ja, ich glaube schon.« »Was denn?« Joshua klang neugierig.
»Nichts Eindeutiges. Wie gesagt, mir kommt die Geschichte einfach zu glatt vor.« Tony leerte sein Weinglas und meinte dann: »Könnte es sein, daß Bruno in Wirklichkeit Katherines Kind ist?«
Joshua starrte ihn verdutzt an. Als er wieder Worte fand, meinte er: »Ist das Ihr Ernst?« »Ja.« »Sie fragen, ob es möglich wäre, daß sie die ganze Sache mit Mary Günther erfand und einfach nach San Franzisko fuhr, um selbst ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen?« »Genau das ist meine Frage«, entgegnete Tony.
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