Flüstern in der Nacht
Gemälde, von dem er wußte, daß es eine Landschaft mit Bäumen und Wildblumen darstellte; aber er konnte die Gegenstände darauf nicht sehen , konnte sich nur daran erinnern, daß sie abgebildet waren. Was er sah, waren Schmierer, sinnlose Linien, Tupfer, bedeutungslose Umrisse.
Er versuchte, nicht in Panik zu geraten, redete sich ein, daß seine Verwirrung und Desorientierung lediglich daher rührten, daß er die ganze Nacht nicht schlief. In kurzer Zeit hatte er eine weite Strecke zurückgelegt, und deshalb war seine Müdigkeit ganz verständlich. Seine Augen wirkten schwer, ausgedörrt, rot und brannten. Der ganze Körper tat ihm weh, sein Hals fühlte sich steif an. Er brauchte jetzt dringend Schlaf. Später, beim Aufwachen würde sein Kopf wieder klar sein. Das redete er sich ein, daß mußte er einfach glauben. Er hatte das Haus von unten bis oben durchsucht, befand sich jetzt also in dem ausgebauten Speicher, dem großen Raum mit der schrägen Decke, in dem er den größten Teil seines Lebens zugebracht hatte. Im kalkigen Licht seiner Taschenlampe konnte er das Bett sehen, in dem er all die Jahre schlief, damals in dieser Felsenvilla. Er selbst lag schon auf dem Bett, lag da mit geschlossenen Augen, so als schliefe er. Aber die Augen waren natürlich zugenäht, und das weiße Nachthemd stellte gar kein Nachthemd dar, sondern das Leichenhemd, das Avril Tannerton ihm angezogen hatte. Er selbst war tot. Das Miststück hatte ihn erstochen, ihn umgebracht. Seit letzter Woche war er kalt und mausetot.
Bruno schien zu entnervt, um seinem Leid und seiner emporsteigenden Wut Luft zu machen. Er ging zu dem breiten Bett hin und streckte sich auf seiner Hälfte aus, neben sich selbst. Er selbst stank, verbreitete einen durchdringenden chemischen Geruch.
Das Bettzeug um ihn herum war befleckt, von dunklen Flüssigkeiten durchfeuchtet, die langsam aus der Leiche rannen. Bruno störte das nicht. Seine Betthälfte schien trocken. Und obwohl er selbst tot war und nie wieder sprechen oder lachen konnte, fühlte Bruno sich wohl, fühlte sich selbst nahe. Bruno streckte die Hand aus und berührte sich selbst. Er berührte die kalte, harte, starre Hand und hielt sie fest. Die qualvolle Einsamkeit ließ ein wenig nach. Nicht daß Bruno sich wieder ganz gefühlt hätte – er würde sich nie wieder ganz fühlen können, weil eine Hälfte von ihm tot war. Aber wie er so neben seiner Leiche lag, fühlte er sich nicht mehr ganz so allein.
Er ließ die Taschenlampe brennen, um die Dunkelheit aus dem Schlafzimmer im Dachboden zu verjagen, und schlief ein.
Dr. Nicholas Rudges Praxis befand sich im zwanzigsten Stock eines Hochhauses im Herzen von San Franzisko. Offenbar, dachte Hilary, hatte der Architekt das unangenehme Wort ›Erdbeben‹ nie vernommen oder einen sicheren Pakt mit dem Teufel geschlossen. Eine Wand in Rudges Praxis bestand vom Boden bis zur Decke aus Glas, wurde lediglich von zwei schmalen vertikalen Stahlstreben in drei riesige Scheiben geteilt; jenseits der Glasfläche lag die terrassenartig angelegte Stadt, die Bucht, die grandiose Golden-Gate-Brücke und die letzten Überreste des Nebels der vergangenen Nacht. Ein aufkommender Pazifikwind zerfetzte die grauen Wolken mehr und mehr, und der blaue Himmel weitete sich von Minute zu Minute. Ein grandioser Ausblick.
Am anderen Ende des großen Raumes standen sechs behagliche Sessel um einen kreisförmigen niedrigen Tisch aus Teakholz; offenbar fanden dort die Gruppentherapiesitzungen statt. Jetzt nahmen Hilary, Tony, Joshua und der Arzt dort Platz.
Rudge wirkte sympathisch, konnte einem das Gefühl vermitteln, man sei der interessanteste und bezauberndste Mensch, dem er seit Jahrzehnten begegnet war. Sein Haupt war kahl wie eine Billardkugel, trug dafür aber einen sauber gestutzten Vollbart und einen Schnurrbart, und einen Anzug mit Weste; das Einstecktuch in der Brusttasche paßte exakt zu seiner Krawatte; er wirkte weder bankiermäßig noch dandyhaft, sondern eher distinguiert, dabei aber verläßlich und locker, als trüge er Tenniskleidung.
Joshua faßte in kurzen Sätzen seine Beweise zusammen, die der Arzt hören wollte, und hielt dann einen kurzen Vortrag (der Rudge zu belustigen schien) über die Pflicht eines jeden Psychiaters, die Gesellschaft vor einem Patienten zu schützen, der allem Anschein nach mordlustig war. In einer Viertelstunde hatte Rudge genug gehört, um überzeugt zu sein, daß in diesem Fall die Berufung auf die ärztliche
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