Flüstern in der Nacht
Schweigepflicht unklug wäre. Er war bereit, ihnen Einsicht in die Akte Frye zu gewähren.
»Obwohl ich zugeben muß«, meinte Rudge, »daß ich dieser unglaublichen Geschichte wenig Glauben geschenkt hätte, wären Sie allein zu mir gekommen. Ich hätte dann sogar eher angenommen, Sie bedürften meiner professionellen Dienste.«
»Wir haben durchaus die Möglichkeit in Betracht gezogen, zu dritt den Verstand verloren zu haben«, erwiderte Joshua. »Haben uns dann aber anders entschieden«, fügte Tony hinzu.
»Nun, sollten Sie wirklich nicht ganz bei Verstand sein«, meinte Rudge, »dürfen Sie inzwischen ›wir vier‹ sagen, weil Sie mich überzeugt haben.« In den vergangenen achtzehn Monaten (erklärte Rudge) hatte er Frye achtzehnmal in jeweils fünfzig Minuten dauernden Sitzungen bei sich. Bereits beim ersten Termin erkannte er, daß der Patient aus irgendeinem Grund an schweren Störungen litt und legte Frye deshalb nahe, ihn mindestens einmal pro Woche aufzusuchen, weil er (Rudge) die Ansicht vertrat, es handle sich um ein allzu ernsthaftes Problem, deshalb genüge eine Sitzung pro Monat kaum dafür. Aber Frye wollte das nicht.
»Wie ich Ihnen schon am Telefon mitteilte«, erklärte Rudge, »wurde Mr. Frye von zwei Wünschen hin- und hergerissen. Er wollte meine Hilfe und seinem Problem auf den Grund kommen. Aber gleichzeitig hatte er Angst davor, mir zuviel anzuvertrauen – und vor dem, was er möglicherweise dabei über sich erfahren könnte.«
»Worin bestand sein Problem?« wollte Tony wissen. »Nun, das Problem selbst – der psychologische Knoten, der seine Ängste und Spannungen verursachte – befand sich natürlich in seinem Unterbewußtsein. Deshalb brauchte er mich. Am Ende wären wir imstande gewesen, diesen Knoten ausfindig zu machen, und dann hätten wir ihn, falls die Therapie erfolgreich gewesen wäre, vielleicht sogar lösen können. Aber so weit kamen wir nicht. Ich kann Ihnen also nicht sagen, was ihm fehlte, weil ich es nicht weiß. Aber ich glaube, was Sie tatsächlich wissen wollen, ist – was Frye ursprünglich zu mir führte? Was ließ ihn erkennen, daß er Hilfe brauchte?«
»Ja«, meinte Hilary. »Zumindest können wir damit anfangen. Was zeigte er für Symptome?«
»Was ihn am meisten beunruhigte, von Mr. Fryes Standpunkt aus, war ein immer wiederkehrender Alptraum, der ihm angst machte.«
Auf dem runden Tisch stand ein Tonbandgerät, und daneben lagen zwei Stapel Kassetten; vierzehn auf dem einen und vier auf dem anderen Stapel. Rudge beugte sich in seinem Sessel vor und ergriff eine der vier.
»Alle meine Konsultationen werden aufgezeichnet und in einem Safe aufbewahrt«, erklärte der Psychiater. »Das hier sind die Tonbandaufzeichnungen der Sitzungen mit Mr. Frye. Gestern nacht habe ich mir nach dem Telefonat mit Mr. Rhinehart Teile dieser Aufzeichnungen angehört, um herauszufinden, ob ich vielleicht ein paar besonders aufschlußreiche Stellen finden würde. Ich fühlte, daß Sie mich überzeugen würden, Ihnen Einsicht zu gewähren, und dachte, es wäre vielleicht besser, wenn Sie Bruno Fryes Beschwerden in seiner eigenen Ausdrucksweise hören.« »Ausgezeichnet«, meinte Joshua.
»Dieses erste Band stammt von der allerersten Sitzung«, sagte Rudge. »In den ersten vierzig Minuten wollte Frye fast überhaupt nichts von sich geben. Es war höchst seltsam. Äußerlich schien er ruhig und konzentriert, aber ich sah, daß er Angst hatte und sich bemühte, seine wahren Gefühle zu verbergen. Er fürchtete sich davor, mit mir zu sprechen. Fast wäre er aufgestanden und weggegangen. Aber ich habe mir große Mühe mit ihm gegeben, und so erklärte er mir schließlich in den letzten zehn Minuten, weshalb er mich aufgesucht hatte, obwohl es ungeheure Mühe bereitete, etwas aus ihm herauszuholen.«
Rudge legte die Kassette auf und schaltete das Gerät ein. Als Hilary die vertraute, tiefe, heisere Stimme vernahm, lief ihr ein eisiger Schauder über den Rücken. Frye sprach den ersten Satz:
»Ich habe da Probleme.«
»Was für Probleme?«
»Nachts.«
»Ja?«
»Jede Nacht.«
»Sie meinen, Sie haben Schlafprobleme?«
»Das teilweise auch.«
»Könnten Sie etwas deutlicher werden?«
»Ich habe da diesen Traum.«
»Was für einen Traum?«
»Einen Alptraum.«
»Jede Nacht denselben?«
»Ja.«
»Seit wann geht das schon so?«
»Solange ich mich erinnern kann.«
»Ein Jahr? Zwei Jahre?«
»Nein, nein. Schon viel länger.«
»Fünf Jahre? Zehn?«
»Wenigstens
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