Flüstern in der Nacht
hundertfünfzig Stundenkilometer anzeigte.
Wenn ein Polizist ihn wegen überhöhter Geschwindigkeit aufhalten würde, so würde Bruno ihn töten. Mit dem Messer. Aufschlitzen würde er ihn. Niemand könnte Bruno aufhalten, niemand verhindern, daß er St. Helena erreichte, noch ehe die Sonne aufging.
7
Aus Sorge, Leute der Nachtschicht könnten ihn sehen, Leute, die von seinem Tod wußten, fuhr Bruno Frye mit dem Lieferwagen nicht auf das Gelände seines Weingutes. Statt dessen parkte er fast eineinhalb Kilometer entfernt auf der Hauptstraße und schlich dann durch die Weingärten zu dem Haus, das er vor fünf Jahren gebaut hatte. Das Licht der kalten, weißen Mondscheibe fiel indirekt durch die Risse der Wolkendecke und bot ihm ausreichende Beleuchtung, um seinen Weg zwischen den Reben zu finden. Über den sanft gerundeten Hügeln lag Stille. Die Luft roch nach Kupfersulfat, das man im Sommer sprühte, um Mehltau zu verhindern, und nach frischem Regen. Inzwischen regnete es nicht mehr. Heftig konnte der Sturm auch nicht gewesen sein, denn der Boden schien nur weich und feucht, nicht aber schlammig zu sein.
Der Nachthimmel wurde zunehmend heller. Die Morgendämmerung ließ noch etwas auf sich warten, doch bald würde die Sonne aufgehen.
Am Rande der Lichtung kauerte Bruno sich neben ein paar Büschen nieder und studierte die Schatten rings ums Haus. Die Fenster waren dunkel und leer. Nichts bewegte sich. Außer dem weichen, wispernden Pfeifen des Windes konnte man keinen Laut hören.
Bruno blieb ein paar Minuten in geduckter Haltung bei den Büschen. Er wagte nicht, sich zu bewegen, aus Angst, sie könnte drinnen auf ihn warten. Doch zu guter Letzt zwang er sich, den Schutz und die relative Sicherheit der Büsche zu verlassen, erhob sich klopfenden Herzens und ging auf die Haustür zu. Er hielt eine nicht eingeschaltete Taschenlampe in der linken Hand und in der rechten ein Messer, bereit, bei der geringsten Bewegung zuzustoßen; aber da gab es nichts, was sich bewegte – nur er.
An der Türschwelle legte er die Lampe nieder, fischte einen Schlüssel aus der Jackentasche und sperrte die Tür auf. Dann ergriff er wieder die Lampe, stieß mit einem Fuß die Tür auf, knipste die Lampe an und huschte geduckt ins Haus, das Messer nach vorn gerichtet. Aber sie wartete nicht in der Halle auf ihn. Bruno tappte langsam von einem düsteren, mit Möbeln vollgestopften Raum zum nächsten. Er schaute in Schränke, hinter Sofas und hinter die großen Vitrinen. Sie hielt sich nicht im Haus auf.
Vielleicht war er rechtzeitig zurückgekehrt und ihrem Komplott zuvorgekommen.
Er stand mitten im Wohnzimmer, das Messer in der einen, die Taschenlampe in der anderen Hand, beide gen Boden gerichtet. Er schwankte etwas, wirkte erschöpft, benommen, verwirrt. In solchen Augenblicken drängte es ihn danach, mit sich selbst zu sprechen, seine Empfindungen mit sich zu teilen, seine Verwirrung mit sich selbst zu lösen, um wieder klar denken zu können. Aber er würde sich nie mehr mit sich selbst beraten können, weil er tot war. Tot.
Bruno begann zu zittern. Er weinte. Er war allein, verängstigt, völlig verstört. Vierzig Jahre lang spielte er die Rolle eines gewöhnlichen Menschen, und es gelang ihm recht gut. Jetzt ging das nicht mehr. Eine Hälfte von ihm war tot. Der Verlust schien zu groß, als daß er ihn einfach hätte abtun können. Er besaß keinerlei Selbstvertrauen. Wenn er sich nicht an sich selbst wenden, sein anderes Ich nicht mehr um Rat und Empfehlungen bitten konnte, dann schien auch jede Kraft von ihm gewichen zu sein, um das Spiel weiter durchzuhalten. Aber das Miststück befand sich in St. Helena. Irgendwo. Er konnte seine Gedanken nicht ordnen, sich nicht in den Griff bekommen. Aber eines wußte er: Er mußte sie finden und töten. Er mußte sie ein für allemal loswerden.
Der kleine Reisewecker sollte um sieben Uhr am Donnerstagmorgen klingeln.
Tony erwachte eine Stunde früher. Er fuhr hoch, ging daran, sich im Bett aufzusetzen, erkannte dann, wo er sich befand, und ließ sich langsam in die Kissen zurücksinken. Er lag in der Finsternis auf dem Rücken und starrte zu der mit Schatten verhangenen Decke empor, lauschte auf Hilarys rhythmischen Atem.
Er war im Schlaf hochgeschreckt, um einem Alptraum zu entfliehen, einem total abscheulichen Traum, angefüllt mit Gräbern, Leichenhallen und Särgen, einem Traum, der schwer und drückend auf ihm lastete, finster wie der Tod: Messer. Kugeln.
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