Flüstern in der Nacht
aber ich gewöhne mich nie daran. Ich habe Angst vor dem Einschlafen. Jede Nacht fürchte ich mich davor.«
»Haben Sie sich schon einmal einer Therapie unterzogen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich hatte Angst.«
»Wovor?«
»Vor dem ... was vielleicht dabei herauskommen würde.«
»Warum sollten Sie Angst davor haben?«
»Es könnte etwas ... etwas Peinliches sein.«
»Aber für mich doch nicht.«
»Vielleicht für mich selbst.«
»Darüber sollten Sie sich keine Sorgen machen. Ich bin Ihr Arzt. Ich bin hier, um Ihnen zuzuhören und zu helfen. Wenn Sie –«
Dr. Rudge nahm die Kassette aus dem Bandgerät und erklärte: »Ein immer wiederkehrender Alptraum. Das ist nicht gerade außergewöhnlich. Aber ein Alptraum, dem taktile und akkustische Halluzinationen folgen – das sind eigenartige Beschwerden.«
»Und trotzdem«, meinte Joshua, »erschien er Ihnen nicht gefährlich?«
»Du lieber Himmel, nein!« antwortete Rudge. »Er hatte nur Angst vor einem Traum, und dies begreiflicherweise. Und die Tatsache, daß einige Empfindungen aus dem Traum selbst noch über das Erwachen hinaus anhielten, bedeutete, daß der Alptraum aller Wahrscheinlichkeit nach irgendein ganz besonders schreckliches, unterdrücktes Erlebnis repräsentierte, ein tief in seinem Unterbewußtsein vergrabenes Geheimnis. Aber Alpträume sind gewöhnlich eine durchaus gesunde Methode, um psychologisch Dampf abzulassen. Er zeigte keinerlei Anzeichen einer Psychose. Er erweckte auch nicht den Anschein, als vermenge er Bestandteile seines Traumes mit der Realität. Wenn er von seinem Traum sprach, gab es für ihn eine ganz klare Trennungslinie. In seinem Bewußtsein schien er deutlich zwischen Alptraum und wirklicher Welt zu unterscheiden.« Tony rutschte auf seinem Sessel nach vorn. »Könnte es sein, daß er sich in der Realität weniger sicher glaubte, als er Ihnen vorgab?«
»Sie meinen ... ob es sein könnte, daß er mich täuschte?« »Könnte er das?«
Rudge nickte. »Die Psychologie ist keine exakte Wissenschaft. Und im Vergleich dazu ist die Psychiatrie noch weniger genau. Ja, er hätte mich täuschen können, insbesondere nachdem ich ihn ja nur einmal im Monat sah und so keine Gelegenheit hatte, das Auf und Ab seiner Stimmungen und seiner Persönlichkeit zu beobachten, das sicher offenkundiger gewesen wäre, hätten wir wöchentlich Kontakt gepflegt.« »In Anbetracht dessen, was Joshua Ihnen vor einer Weile gesagt hat«, meinte Hilary, »haben Sie das Gefühl, getäuscht worden zu sein?«
Rudge lächelte schief. »Sieht so aus, nicht wahr?« Er griff nach einer zweiten Kassette, die bereits ein Stück abgespult war, und legte sie auf.
»Sie haben Ihre Mutter nie erwähnt.«
»Was ist mit ihr?«
»Das ist meine Frage an Sie.«
»Sie stecken voll Fragen, wie?«
»Es gibt Patienten, die brauche ich fast nie etwas zu fragen. Die öffnen sich einfach und fangen zu reden an.« »So? Wovon reden die denn?«
»Sie reden häufig von ihren Müttern.«
»Muß für Sie recht langweilig werden.«
»Selten. Erzählen Sie mir von Ihrer Mutter.«
»Sie hieß Katherine.«
»Und?«
»Ich habe über sie nichts zu berichten.«
»Jeder hat etwas über seine Mutter zu erzählen – und seinen Vater. «
Fast eine Minute lang herrschte Stille. Das Band rollte von der einen Spule auf die andere und erzeugte nur ein zischendes Geräusch.
»Ich warte einfach ab, bis er wieder zu reden anfängt«, meinte Rudge und erklärte ihnen damit das Schweigen. »Er wird gleich wieder anfangen.«
»Dr. Rudge?«
»Ja?«
»Meinen Sie ...«
»Was?»
»Meinen Sie, daß die Toten tot bleiben?«
»Fragen Sie, ob ich ein religiöser Mann bin?«
»Nein. Ich meine ... glauben Sie, daß jemand sterben kann ... und dann wieder aus dem Grab zurückkehrt?«
»Wie ein Geist?«
»Ja. Glauben Sie an Geister?«
»Sie?«
»Ich habe zuerst gefragt.«
»Nein. Ich glaube nicht daran, Bruno. Und Sie?«
»Ich habe mich dazu nicht entschieden.«
»Haben Sie je einen Geist gesehen?«
»Das weiß ich nicht genau.«
»Was hat das mit Ihrer Mutter zu tun?«
»Sie hat mir gesagt, sie würde ... aus dem Grab zurückkommen.«
»Wann hat sie Ihnen das gesagt?«
»Oh, tausende Male. Sie hat es die ganze Zeit gesagt. Sie hat gemeint, sie wüßte, wie man es macht. Sie hat gesagt, sie würde nach ihrem Tod auf mich aufpassen. Sie hat gesagt, wenn sie sähe, daß ich mich schlecht benähme und nicht so lebte, wie sie das wollte, dann würde sie zurückkommen
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