Flüstern in der Nacht
Zitrone; die beiden Frauen von der Reinigungsfirma hatten gestern saubergemacht. Hilary schaltete das Licht ein und trat an ihren großen Schreibtisch. Sie legte die Pistole mitten auf die Schreibunterlage.
Auf dem Tischchen am Fenster standen in einer Vase rote und weiße Rosen. Ihr Duft bildete einen angenehmen Kontrast zum Möbelpoliturgeruch.
Sie setzte sich an den Tisch, zog das Telefon heran und suchte die Nummer der Polizei heraus.
Plötzlich, völlig unerwartet, verschwamm ihr Blick unter heißen Tränen. Sie versuchte, sie zurückzuhalten. Sie war Hilary Thomas, und Hilary Thomas weinte nicht. Niemals. Die zähe Hilary Thomas konnte jeden Dreck aushalten, mit dem die Welt sie bewarf – sie würde nie daran zerbrechen. Hilary Thomas stand schließlich auf eigenen Beinen. Doch soviel sie auch die Augen zupreßte, der Tränenfluß wollte nicht versiegen. Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen und sammelten sich salzig in ihren Mundwinkeln, bevor sie am Kinn herabtropften. Zuerst weinte sie beinahe lautlos, ohne das leiseste Wimmern, aber nach einer Minute begann sie zu zucken und zu frösteln, und schließlich verselbständigte sich ihre Stimme. Aus tiefer Kehle entrangen sich ihr gurgelnde, erstickte Laute, die schnell zu scharfen, halblauten Schreien der Verzweiflung anschwollen. Sie verlor die Beherrschung, schreckliche Klagelaute brachen aus ihr hervor. Sie schlang sich die Arme um den Körper, schluchzte, blubberte und rang nach Atem. Sie riß Kleenex aus dem Spender auf der Schreibtischplatte, schneuzte sich, hatte sich kurzfristig wieder in der Gewalt – dann schüttelte es sie erneut, und wieder fing sie zu schluchzen an.
Sie weinte nicht, weil er ihr wehgetan hatte. Er fügte ihr keinen nachhaltigen oder unerträglichen Schmerz zu – zumindest nicht physisch. Sie weinte, weil er sie auf eine Art, die sie nicht näher definieren konnte, geschändet hatte. Sie kochte vor Wut und Scham. Obwohl er sie nicht vergewaltigt und es nicht einmal geschafft hatte, ihr die Kleider vom Leib zu reißen, so hatte er doch die hauchdünne Glaskugel ihrer Unversehrtheit zerstört, ihre mit so großer Sorgfalt errichtete Sperre, auf die sie so überaus großen Wert legte. Er hatte sich gewaltsam in ihre heile Welt gedrängt und mit seinen schmutzigen Händen alles besudelt.
Heute abend, am besten Tisch in der Polo Lounge, konnte Wally Topelis sie ein wenig überzeugen, ihr Visier wenigstens ein paar Zentimeter weit zu öffnen. Zum erstenmal nach neunundzwanzig Jahren zog sie ernsthaft die Möglichkeit in Betracht, etwas weniger defensiv zu leben, als sie das bisher getan hatte.
Nach all den guten Nachrichten und auf Wallys Drängen hin war sie bereit gewesen, sich auf ein mit etwas weniger Furcht behaftetes Leben einzulassen; sie fand diese Vorstellung sogar sehr angenehm. Ein Leben mit mehr Freunden, mehr Entspannung, mehr Spaß. Ein leuchtender Traum, dieses neue Leben, das man nicht ohne weiteres erreichen konnte, das aber der Mühe wert schien. Und Bruno Frye hatte diesen zerbrechlichen Traum am Hals gepackt, erwürgt und sie daran erinnert, daß die Welt ein gefährlicher Ort war, ein finsterer Keller, in dem alptraumhafte Kreaturen sich in dunklen Ecken drängten und auf Beute lauerten. Genau in dem Augenblick, in dem sie sich abmühte, aus ihrer Höhle hervorzukriechen – ehe sie eine Chance hatte, sich an der neuen Welt ohne unterirdische Gänge und Labyrinthe zu freuen –, hatte er ihr einen Schlag ins Gesicht versetzt und sie wieder zurücktaumeln lassen in diese ihre Welt des Zweifels, der Furcht und des Argwohns, hinab in die grauenhafte Sicherheit der Einsamkeit. Sie weinte, weil sie sich geschändet und zutiefst gedemütigt fühlte. Er hatte ihre schwache Hoffnung einfach gepackt und zertrampelt, so wie ein Raufbold auf dem Schulhof einem schwächeren Kind sein Lieblingsspielzeug zertritt.
2
Muster. Für Anthony Clemenza übten sie eine besondere Faszination aus.
Bei Sonnenuntergang, während Hilary Thomas zur Entspannung noch durch die Hügellandschaft gefahren war, hatten Anthony Clemenza und sein Partner, Lieutenant Frank Howard, einen Barmixer in Santa Monica befragt. Hinter den riesengroßen Westfenstern des Lokals erzeugte die untergehende Sonne auf dem immer dunkler werdenden Meer einen beständigen Wechsel von purpurnen, orangefarbenen und silbern gesprenkelten Mustern.
Das Lokal, eine Single-Bar namens Paradise, galt als Treffpunkt für Abwechslung suchende einsame
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