Flüstern in der Nacht
konnte, die in jeder Einzelheit genau denen Brunos entsprechen«, fügte Tony hinzu. Die Cessna dröhnte in nördlicher Richtung dahin. Der Wind peitschte die kleine Maschine.
Eine Minute lang saßen alle drei schweigend in dem kleinen rotgelb lackierten fliegenden Kokon.
Dann gab Joshua zu: »Sie haben recht. Ich kann es nicht erklären. Die Theorie taugt nichts.«
»Was meinst du?« fragte Hilary Tony. »Sind Bruno und sein Bruder doch nicht getrennt worden?«
»Sie hat sie beide nach St. Helena, nach Hause, mitgenommen«, entgegnete Tony.
»Aber wo befand sich dann der andere Zwilling all die Jahre?« fragte Joshua. »Irgendwo in einem Schrank eingesperrt oder so etwas?«
»Nein«, meinte Tony. »Wahrscheinlich sind Sie ihm häufig begegnet.«
»Was? Ich? Nein. Niemals. Nur Bruno.«
»Was ist, wenn ... wenn beide als Bruno gelebt haben. Was ist, wenn ... sie sich einfach abgewechselt haben?« Joshua wandte seinen Blick vom offenen blauen Himmel vor ihnen ab, starrte Tony an und blinzelte. »Wollen Sie mir etwa weismachen, daß die beiden vierzig Jahre lang ein kindisches Spiel getrieben haben?« fragte er skeptisch. »Kein Spiel«, antwortete Tony. »Zumindest stellte es für sie kein Spiel dar, sondern eine verzweifelte, gefährliche Notwendigkeit.«
»Jetzt komm' ich nicht mehr mit«, weigerte sich Joshua. Zu Tony gewandt, fügte Hilary hinzu: »Ich wußte, daß du eine Idee hattest, als du Mrs. Yancy nach den Glückshauben fragtest und die Reaktion Katherines darauf wissen wolltest.« »Ja«, gab Tony zu. »Das Gerede Katherines über einen Dämon – hat mir einen Teil des Rätsels offenbart.«
»Herrgott noch mal!« stöhnte Joshua ungeduldig, fast mürrisch. »Hören Sie gefälligst auf, so geheimnisvoll zu tun. Reden Sie so, daß Hilary und ich es auch verstehen können.« »Tut mir leid. Ich habe sozusagen laut gedacht.« Tony rutschte auf seinem Sessel zur Seite. »Okay. Hören Sie zu. Es wird eine Weile dauern. Ich muß ganz vorn anfangen ... Um zu kapieren, was ich über Bruno zu sagen habe, müssen Sie Katherine verstehen – zumindest so, wie ich sie sehe. Nach meiner Theorie haben wir es hier ... haben wir es mit einer Familie zu tun, in der Geistesgestörtheit ... irgendwie wenigstens über drei Generationen hinweg weitervererbt wurde. Die Geisteskrankheit wächst immer weiter und weiter, wie ein Bankkonto, auf dem die Zinsen steigen.« Tony rutschte erneut auf seinem Sitz herum. »Fangen wir mit Leo an. Ein extrem autoritärer Typ. Um glücklich zu sein, mußte er andere Leute völlig kontrollieren und beherrschen. Einer der Gründe, weshalb er im Geschäft so erfolgreich war, aber deshalb auch nicht viele Freunde hatte. Er bekam immer das, was er wollte; er gab nie nach. Aggressive Männer wie Leo benehmen sich sexuell völlig anders als im übrigen Leben; sie möchten, daß ihnen alle Verantwortung abgenommen wird im Bett; sie wollen herumkommandiert und beherrscht werden – doch nur im Bett. Nicht so Leo. Nicht einmal im Bett. Er bestand darauf, selbst in seinem Sexualleben die dominante Rolle zu spielen. Er genoß es, Frauen wehzutun und sie zu demütigen, sie zu beleidigen und sie zu unangenehmen Dingen zu zwingen, brutal zu sein, sadistisch. Das wissen wir von Mrs. Yancy.«
»Aber von der Bezahlung Prostituierter für die Erfüllung irgendwelcher perverser Wünsche bis zur Belästigung seines eigenen Kindes ist es doch ein verdammt weiter Weg«, warf Joshua ein. »Aber wir wissen, daß er Katherine wiederholt belästigt hat, und zwar über Jahre hinweg«, erklärte Tony. »Also muß es in Leos Augen kein so großer Schritt gewesen sein. Wahrscheinlich hätte er gesagt, es sei ganz in Ordnung, Mrs. Yancys Mädchen zu mißhandeln, denn er bezahlte ja schließlich dafür, und deshalb gehörten sie ihm, wenigstens eine Weile. Er muß ein Mann mit ausgeprägtem Sinn für Besitz gewesen sein – und mit einer höchst freizügigen Definition dessen, was ›Besitz‹ umfaßte. Wahrscheinlich hätte er mit diesem Standpunkt auch das zu rechtfertigen versucht, was er Katherine antat. Ein Mann wie er sieht in einem Kind auch nur seinen Besitz – ›mein Kind‹ anstatt ›mein Kind‹. Für ihn stellte Katherine ein Ding, einen Gegenstand dar, der sinnlos war, wenn man ihn nicht benutzte.«
»Ich bin froh, daß ich diesen Hundesohn nie kennengelernt habe«, entgegnete Joshua. »Hätte ich ihm je die Hand geschüttelt, ich würde mich heute noch schmutzig fühlen.« »Worauf ich hinaus
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