Flüstern in der Nacht
mit sich Einsseins. Er und sein anderes Ich gegen die Welt, ohne die Furcht des Alleinseins. Er klammerte sich an die Erinnerung, denn die Erinnerung war jetzt alles, was ihm blieb. Er saß lange auf dem Bett und starrte in die Augen der Leiche.
Joshua Rhineharts Cessna Turbo Skylane RG brauste nach Norden, quer über die östliche Luftströmung hinweg auf das Napa-Tal zu.
Hilary blickte auf die verstreuten Wolken in der Tiefe und die herbstlichen Hügel, die ein paar tausend Fuß unter den Wolken lagen. Über ihnen gab es nichts außer kristallblauen Himmel und einen fernen stratosphärischen Kondensstreifen eines Düsenjägers.
Weit im Westen türmte sich eine dichte blaugraue Wolkenbank auf, die sich, so weit das Auge reichte, von Nord nach Süd erstreckte. Die riesigen Gewitterwolken drängten heran wie mächtige Schiffe auf dem Meer. Bis zum Einbruch der Nacht würde das Napa-Tal – ja das ganze nördliche Drittel des Staates, von der Monterey-Halbinsel bis zur Grenze von Oregon – wieder unter einer finster dräuenden Wolkendecke liegen. In den ersten zehn Minuten nach dem Start sprachen Hilary, Tony und Joshua kein Wort, schienen alle in ihre eigenen finsteren Gedanken – und Ängste – vertieft.
Dann meinte Joshua: »Der Zwilling muß der Doppelgänger sein, den wir suchen.« »Ja, ganz sicher«, entgegnete Tony.
»Katherine hat wohl nicht versucht, ihr Problem durch die Ermordung des zweiten Babys zu lösen«, ergänzte Joshua.
»Offensichtlich nicht«, nickte Tony.
»Aber welchen von beiden habe ich getötet?« fragte Hilary. »Bruno oder seinen Bruder?«
»Wir werden die Leiche exhumieren lassen und schauen, was wir finden können«, meinte Joshua.
Die Maschine trat in ein Luftloch ein und sackte mehr als zweihundert Fuß durch, stieg aber anschließend dröhnend wieder zur ursprünglichen Höhe auf.
Als Hilarys Magen sich wieder an seinem gewohnten Platz einfand, bemerkte sie: »Also schön, sprechen wir die Sache mal ganz durch, um zu sehen, ob wir weiterkommen. Wir sitzen ohnehin alle da und kauen auf demselben Problem herum. Wenn Katherine Brunos Zwillingsbruder nicht getötet hat, um die Mary-Günther-Lüge aufrechtzuerhalten, was hat sie dann mit ihm gemacht? Wo, zum Teufel, steckte er all die Jahre?«
»Nun, da gibt es zunächst einmal Mrs. Rita Yancys Theorie«, sagte Joshua und schaffte es, ihren Namen so auszusprechen, daß er zweifellos einen schlechten Geschmack in seinem Mund hinterließ. »Vielleicht hat Katherine einen der Zwillinge der Kirche oder einem Waisenhaus auf die Türschwelle gelegt.« »Ich weiß nicht ...«, meinte Hilary zweifelnd. »Mir gefällt das nicht, aber ich kann mir nicht erklären, warum. Es klingt einfach zu ... klischeehaft ... zu abgedroschen ... zu romantisch. Verdammt, keines dieser Worte drückt es richtig aus. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Ich habe nur das Gefühl, Katherine hat die Sache nicht so angepackt. Es ist zu ...« »Zu glatt«, unterstrich Tony. »Genau wie diese Mary-Günther-Geschichte für mich zu glatt war. Einen der Zwillinge auszusetzen wäre der schnellste, einfachste, sicherste – wenn auch nicht der moralischste – Weg gewesen, ihr Problem zu lösen. Aber die Leute tun fast nie etwas auf die schnellste, einfachste und sicherste Art. Ganz besonders nicht, wenn sie unter jener Art von Streß stehen, unter dem Katherine litt, als sie Rita Yancys Hurenhaus verließ.«
»Trotzdem können wir diese Möglichkeit nicht ganz ausschließen«, entgegnete Joshua.
»Doch, das glaube ich schon«, wandte Tony ein. »Gehen Sie nämlich davon aus, daß der Bruder ausgesetzt und von Fremden adoptiert wurde, so müssen Sie uns erklären, wie er und Bruno später wieder zusammengekommen sind, nachdem der Bruder bei seiner Geburt nicht einmal registriert wurde. Es hätte in dem Fall überhaupt keine Möglichkeit bestanden, seine Eltern ausfindig zu machen. Er hätte Bruno also nur rein zufällig treffen können. Selbst wenn Sie einen derartigen Zufall akzeptieren, müßten Sie mir aber immer noch erklären, wie der Bruder in einer völlig anderen Umgebung, anders erzogen als Bruno und ohne Katherine zu kennen, einen solch glühenden Haß gegen die Frau und solch überwältigende Furcht vor ihr entwickeln konnte.« »Ja, das wird nicht leicht sein«, räumte Joshua ein. »Sie müßten erklären, weshalb und wie der Bruder seine psychopathische Persönlichkeit und diese paranoiden Wahnvorstellungen entwickeln
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