Flüstern in der Nacht
will«, fuhr Tony fort, »ist folgendes: Katherine war als Kind in einem Haus gefangen, in einer brutalen Beziehung mit einem Mann, der zu allem fähig schien. Demzufolge bestand für sie nicht die geringste Chance, sich geistig halbwegs normal zu entwickeln. Leo war ein eiskalter Brocken, höchst selbstsüchtig, mit einem sehr stark ausgeprägten perversen Sexualtrieb. Es ist möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß er nicht nur unter emotionalen Störungen litt. Höchstwahrscheinlich hatte er sich völlig von der Realität losgelöst, in einem Maße, das ihn zum Psychopathen machte, konnte das aber immer verbergen. Es gibt solche Psychopathen, die ihre Geistesgestörtheit eisern kontrollieren und sich öffentlich durchaus normal zeigen. Diese Art von Psychopathen lebt gewöhnlich den Wahnsinn in einem ganz engen, üblicherweise von der Welt abgegrenzten Bereich aus. Leo ließ ein wenig Dampf bei Prostituierten ab – und sehr viel bei Katherine. Wir müssen davon ausgehen, daß er sie nicht nur körperlich mißbraucht hat; seine Wünsche gingen weit darüber hinaus und verlangten absolute Kontrolle. Als er sie körperlich besaß, gab er so lange keine Ruhe, bis er sie auch seelisch und geistig gebrochen hatte. Als Katherine bei Mrs. Yancy eintraf, um das Baby ihres Vaters zur Welt zu bringen, war sie in jeder Hinsicht ebenso irrsinnig wie vor ihr Leo. Offenbar schien sie auch seine Fähigkeit geerbt zu haben, sich zusammenzunehmen und unter normalen Menschen normal zu wirken. Drei Tage lang, nach der Geburt der Zwillinge, hatte sie diese Fähigkeit verloren, aber dann bekam sie sich wieder unter Kontrolle.«
»Sie hat die Beherrschung aber ein zweites Mal verloren«, fügte Hilary hinzu, während die Maschine erneut hin und her geworfen wurde.
»Yeah«, meinte Joshua. »Als sie Mrs. Yancy einreden wollte, ein Dämon hätte ihr Gewalt angetan.«
»Wenn meine Theorie stimmt«, fuhr Tony fort, »dann hat Katherine nach der Geburt der Zwillinge einen unglaublichen geistigen Wandel durchlebt. Eine neue Kombination von Wahnvorstellungen verdrängte die alte. Trotz sexuellen Mißbrauchs, trotz emotionaler und körperlicher Qualen, die sie bei ihrem Vater erlitt, und trotz ihrer Schwangerschaft hatte sie stets äußerlich Ruhe bewahrt und es irgendwie geschafft, in all der Zeit normal zu wirken. Aber nach der Geburt der Zwillinge, und nachdem ihr klar wurde, daß sie die Geschichte von Mary Günthers Baby nicht mehr verwenden könnte, schien es ihr einfach zuviel zu werden. Sie drehte durch – bis ihr die Idee kam, ein Dämon hätte sie vergewaltigt. Wir wissen von Mrs. Yancy, daß Leo sich für okkulte Dinge interessierte. Katherine mußte einige von Leos Büchern gelesen haben. Irgendwie schien sie zu wissen, daß nach Meinung mancher Leute mit Glückshauben geborene Zwillinge das Zeichen eines Dämons tragen. Und als ihre Zwillinge mit Glückshauben zur Welt kamen ... da begann sie plötzlich zu phantasieren. Und die Vorstellung, das unschuldige Opfer einer dämonischen Kreatur zu sein, die ihr Gewalt antat – nun, diese Idee paßte ihr eigentlich recht gut. Sie befreite sie von der Scham und dem Schuldgefühl, die Kinder ihres eigenen Vaters ausgetragen zu haben. Diese neuerliche Geschichte mußte sie zwar immer noch vor der Welt verbergen, aber sie brauchte sie wenigstens nicht vor sich selbst zu verstecken. Daran war nichts Schändliches, dafür müßte sie sich nicht dauernd vor sich selbst entschuldigen. Niemand konnte von einer gewöhnlichen Frau erwarten, daß sie einem Dämon Widerstand leiste, der doch schließlich übernatürliche Kräfte besitzt. Sie redete sich selbst glaubhaft ein, daß sie wirklich von einem Ungeheuer vergewaltigt wurde, und betrachtete sich damit als unschuldiges unglückliches Opfer.«
»Aber das war sie doch ohnehin«, meinte Hilary. »Sie war das arme Opfer ihres Vaters. Er hatte ihr Gewalt angetan, nicht etwa umgekehrt.«
»Stimmt«, erwiderte Tony. »Aber er verwendete höchstwahrscheinlich viel Zeit und Energie darauf, sie einer Gehirnwäsche zu unterziehen, ihr weiszumachen, sie trage die Schuld an jener perversen Beziehung. Die Schuldgefühle auf die Tochter zu laden – war eine bequeme Art, seinen eigenen Schuldgefühlen zu entkommen. Und zu Leos autoritärer Persönlichkeit würde ein solches Verhalten durchaus passen.«
»Also gut«, meldete sich Joshua am Steuer der Maschine wieder zu Wort. »Bis jetzt stimme ich Ihnen zu. Ihre Theorie braucht nicht richtig zu sein,
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