Flüstern in der Nacht
zu Hause bildeten sie doch ganz sicher zwei selbständige Individuen.« »Vielleicht nicht«, entgegnete Tony. »Wir sind auf Beweise gestoßen, wo sie sich als ... als irgendwie eine Person in zwei Körpern sahen.«
»Beweise? Was für Beweise?« wollte Joshua wissen. »Der Brief, den Sie in dem Schließfach der Bank in San Franzisko fanden. In dem Brief schrieb Bruno, er sei in Los Angeles getötet worden. Er sagte nicht, sein Bruder sei getötet worden; er behauptete, selbst tot zu sein.«
»Mit diesem Brief können Sie gar nichts beweisen«, meinte Joshua. »Alles Unsinn, Hokuspokus. Das ergibt keinen Sinn.« »In gewisser Weise ergibt der Brief sehr wohl Sinn«, widersprach ihm Tony. »Von Brunos Standpunkt aus – falls er in seinem Bruder keinen anderen Menschen sah, falls er in seinem Zwilling sich selbst sah, eine Art Fortsetzung der eigenen Person und nicht eine eigenständige Person, dann leuchtet der Brief plötzlich durchaus ein.« Joshua schüttelte den Kopf. »Aber ich kann immer noch nicht begreifen, wie man zwei Menschen davon überzeugen kann, daß sie nur eine Person darstellen.«
»Sie sind doch daran gewöhnt, von gespaltenen Persönlichkeiten zu hören«, meinte Tony. »Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Die Frau, deren wahre Geschichte in Die drei Gesichter Evas berichtet wurde. Und dann gab es noch ein Buch über eine Frau, vor ein paar Jahren ein Bestseller. Sybil. Sybil kannte in sich sechzehn unterschiedliche eigenständige Persönlichkeiten. Nun, wenn ich mich in bezug auf die Frye-Zwillinge nicht irre, dann entwickelten sie eine Psychose, die das genaue Gegenteil von gespaltenen Persönlichkeiten dar stellt. Diese zwei Leute spalteten sich nicht in vier oder sechs oder acht oder achtzig Persönlichkeiten auf; stattdessen sind sie unter dem ungeheuren psychischen Druck ihrer Mutter ... psychologisch zusammengeschmolzen, eins geworden. Zwei Individuen mit einer Persönlichkeit, einem Bewußtsein, einem Selbstbild, und das alles in zwei Körper geteilt. Wahrscheinlich ist so etwas noch nie vorgekommen und passiert vielleicht auch nie wieder, aber das bedeutet nicht, daß es hier nicht geschehen sein kann.« »Für diese beiden muß es praktisch lebens-notwendig geworden sein, eine identische Persönlichkeit zu entwickeln, um abwechselnd in der Welt außerhalb des Hauses auf der Klippe leben zu können«, meinte Hilary. »Der winzigste Unterschied hätte sofort die ganze Maskerade auffliegen lassen.«
»Aber wie?« wollte Joshua wissen. »Was hat Katherine mit ihnen angestellt? Wie hat sie das zuwege gebracht?« »Genau werden wir das sicherlich nie erfahren«, entgegnete Hilary. »Aber ungefähr kann ich mir schon vorstellen, was sie unternommen hat.« »Ich auch«, fügte Tony hinzu. »Aber fang' du an.«
Am späteren Nachmittag schwächte sich das Licht, das durch die Ostfenster des Speicherraums hereinfiel, zusehends ab; langsam kroch Dunkelheit in die Ecken.
Als allmählich Schatten über den Boden krochen, fing Bruno an, sich Sorgen zu machen, er könne von der Dunkelheit überrascht werden. Er konnte nicht einfach eine Lampe anknipsen, weil sie nicht funktionierten. Das Haus war seit fünf Jahren nicht mehr an das elektrische Stromnetz angeschlossen, seit dem ersten Tod seiner Mutter. Seine Taschenlampe funktionierte mit den leeren Batterien auch nicht mehr.
Eine Weile sah Bruno teilnahmslos zu, wie der Raum zuerst in purpurne, dann in graue Düsternis versank, und kämpfte gegen ein Gefühl der Panik an. Im Dunkeln sich im Freien aufzuhalten, machte ihm nichts aus, denn dort gab es immer etwas Licht von Häusern, Straßenlaternen, vorüberfahrenden Autos, den Sternen, dem Mond. Aber in einem Raum völlig ohne Licht kamen das Wispern und die krabbelnden Biester zurück, und dieser doppelten Plage mußte er sich irgendwie entziehen.
Kerzen.
Seine Mutter hatte immer ein paar Schachteln mit langen Kerzen in der Speisekammer aufbewahrt, gleich neben der Küche. Sie dienten als Reserve bei Stromausfall. In der Speisekammer gäbe es auch ganz sicher Streichhölzer, hundert oder mehr, in einer runden Dose mit einem dichtsitzenden Deckel. All diese Dinge hatte er bei seinem Auszug unberührt gelassen, nur ein paar persönliche Habseligkeiten und einige Stücke aus seinen Kunstsammlungen mitgenommen.
Er beugte sich vor, um wieder in das Gesicht des anderen Bruno zu starren, und sagte zu ihm: »Ich gehe einen Augenblick hinunter.«
Die umwölkten toten Augen starrten ihn an. »Ich
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