Flüstern in der Nacht
Wassers. Dafür war er beweglicher, weniger auffällig und viel anonymer als ein Camper. Um die vielen Annehmlichkeiten eines komplett ausgestatteten Wohnwagens nutzen zu können, müßte er jede Nacht auf einen Campingplatz fahren und den Wagen dort an die elektrische Leitung, das Wasser und das Abwasser anschließen, und außerdem überall seinen Namen und seine Adresse angeben. Das war viel zu riskant. Mit seinem Wohnwagen würde er Spuren hinterlassen, die selbst ein Bluthund ohne Nase finden könnte. Das gleiche galt für Hotels. Die Angestellten würden sich bei Polizeibefragungen sicher an den großen, auffällig muskulösen Mann mit den durchdringenden blauen Augen erinnern.
In der Herrentoilette der Tankstelle zog er die Handschuhe und den gelben Sweater aus, wusch sich den Oberkörper und die Achselhöhlen mit flüssiger Seife und feuchten Papiertüchern, besprühte sich mit Deodorant und zog sich wieder an. Er legte großen Wert auf Reinlichkeit; er wollte immer sauber und adrett aussehen.
Unsauberkeit und Schmutz bereiteten ihm nicht nur Unbehagen, sondern führten geradezu zu Depressionen – ja fast zu Angst, so, als würde Dreck unbestimmte Erinnerungen an irgendein unerträgliches, lang vergessenes Erlebnis heraufbeschwören, widerwärtige Erinnerungen am Rande seiner Wahrnehmungskraft, die er fühlen, aber nicht sehen, wahrnehmen, aber nicht verstehen konnte. In den seltenen Nächten, in denen er sich ohne vorherige Wäsche ins Bett hatte fallen lassen, drückte sein immer wiederkehrender Alptraum viel schlimmer als gewöhnlich und hatte ihn schreckerfüllt schreiend und um sich schlagend aus dem Schlaf hochfahren lassen. Obwohl er immer ohne deutliche Erinnerung an seine Träume aufwachte, hatte er da jedesmal das Gefühl, sich gerade mit Zähnen und Klauen aus einem erdrückend widerwärtigen, schmutzigen Ort emporgearbeitet zu haben, einem finsteren, stickigen, stinkenden Loch im Boden entronnen zu sein.
Um also seinen Alptraum, der sich sicherlich wieder einstellen würde, nicht noch zu verstärken, wusch er sich in dieser Herrentoilette, rasierte sich dann noch schnell elektrisch, betupfte sein Gesicht mit Rasierwasser, putzte sich die Zähne und ging auf die Toilette. Am Morgen würde er zu einer anderen Tankstelle fahren und das gleiche Ritual wiederholen. Bei der Gelegenheit würde er dann auch seine Kleidung wechseln.
Er bezahlte das Benzin, fuhr durch den immer dichter werdenden Nebel nach Marina Del Rey zurück und parkte seinen Kombi auf demselben Parkplatz bei den Docks, von dem aus er sein Haus in Napa County angerufen hatte. Er stieg aus dem Dodge, ging zur Telefonzelle und wählte erneut seine Nummer. »Hallo?«
»Ich bin's«, sagte Frye. »Alles klar.« »Hat die Polizei angerufen?«
»Ja.«
Sie redeten einige Minuten, dann kehrte Frye zu seinem Dodge zurück.
Er streckte sich auf der Matratze im hinteren Teil des Kombis aus und knipste die Taschenlampe an. Völlige Dunkelheit konnte er nicht ertragen. Er konnte nicht schlafen, wenn nicht wenigstens ein schwacher Lichtstreifen unter einer Tür hereinfiel oder irgendwo in einer Ecke ein Nachtlicht brannte. In völliger Dunkelheit bildete er sich ein, irgendwelche unheimlichen Geschöpfe würden auf ihm herumkriechen, über sein Gesicht huschen oder in seine Kleidung schlüpfen. Ohne Licht bedrängte ihn lautloses, drohendes Wispern, das er manchmal auch noch ein oder zwei Minuten nach dem Erwachen aus seinem Alptraum weiterhörte, jenes bedrohliche Wispern, das sein Blut zum Stocken brachte und sein Herz fast stillstehen ließ.
Sollte er jemals dieses Wispern identifizieren oder gar verstehen können, was es ihm sagen wollte, dann würde er die Bedeutung seines Alptraumes erkennen. Er würde wissen, wer oder was den immer wiederkehrenden Traum verursachte, die eisige Angst, und dann würde er vielleicht endlich imstande sein, sich von ihm zu befreien.
Unglücklicherweise war er jedesmal, wenn er aufwachte und das Wispern nach dem Traum hörte, nicht in der Gemütsverfassung, genau hinzuhören und das Wispern zu analysieren; er befand sich stets in einem Zustand der Panik, in dem er sich nur wünschte, das Wispern möge bald verstummen und ihn in Frieden lassen.
Er versuchte im indirekten Schein der Taschenlampe zu ruhen, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Frye wälzte sich immer wieder unruhig hin und her. Sein Verstand arbeitete wie wild. Er war hellwach.
Langsam wurde ihm klar, daß die nicht beendete Sache
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