Flüstern in der Nacht
verstrichen ist. Ich meine, er lag ganz offensichtlich nach seinem Tod, ehe man ihn fand, ein paar Stunden in der heißen Sonne. Und danach befand er sich achtzehn Stunden in der Kühlung, ehe die Balsamierung vorgenommen wurde. Ich kann das sicher hinkriegen, daß er viel besser aussieht als jetzt. Aber das Leuchten des Lebens in sein Gesicht zurückzubringen ... Sehen Sie, nach allem, was er bereits durchgemacht hat, nach den extremen Temperaturschwankungen und nach so viel verstrichener Zeit hat sich die Hautstruktur wesentlich verändert; sie nimmt mit Sicherheit kein Make-up mehr an und auch keinen Puder. Ich glaube, vielleicht ...«
Joshua, dem allmählich übel wurde, unterbrach ihn. »Machen Sie den Sarg zu.« »Keine Aufbahrung?« »Keine Aufbahrung.« »Und Sie sind sich ganz sicher?« »Ganz sicher.«
»Gut. Lassen Sie mich nachdenken ... Möchten Sie, daß er in einem seiner Anzüge begraben wird?« »Ist das nötig, in Anbetracht der Tatsache, daß der Sarg nicht offen sein wird?«
»Für mich wäre es einfacher, ihn in eines unserer Sterbekleider zu stecken.« »Ist mir recht.«
»Weiß oder hübsches Dunkelblau?« »Etwas Gepunktetes haben Sie nicht?« »Gepunktet?«
»Oder orange mit gelben Streifen?«
Tannertons stets offenkundiges Grinsen glitt unter seinem würdigen Leichenbestatterblick hervor, und er gab sich Mühe, es wieder zu verdrängen. Joshua argwöhnte, Avril wäre als Privatmann bestimmt jemand, der gerne Spaß machte, jemand, der einen guten Trinkkumpan abgeben würde, aber hier vertrat er die Ansicht, seinem Berufsimage gemäß stets würdevoll und humorlos zu wirken. Er war sichtlich verstimmt, wenn es ihm mißlang, in so einem Augenblick den privaten Avril zu unterdrücken. Er mußte für die Öffentlichkeit in ein bestimmtes Klischee passen. Joshua hielt ihn für einen potentiellen Schizophrenie-Kandidaten. »Nehmen Sie ein weißes Kleid«, meinte Joshua. »Und was ist mit dem Sarg? Welchen Stil würden ...« »Das überlasse ich Ihnen.« »Sehr wohl. Preisgruppe?«
»Ruhig das Beste. Der Nachlaß kann es sich leisten.« »Es geht das Gerücht, daß er zwei oder drei Millionen schwer gewesen sein soll.«
»Wahrscheinlich doppelt soviel«, behauptete Joshua. »Aber sein Leben verlief nicht danach.« »Sein Tod auch nicht«, meinte Joshua.
Tannerton dachte einen Augenblick darüber nach und fragte dann: »Irgendeinen Gottesdienst?« »Er ging nie in die Kirche.« »Soll ich dann die Ansprache halten?« »Wenn Sie wollen.«
»Wir halten eine kurze Rede am Grab«, ergänzte Tannerton. »Ich werde irgendeine Passage aus der Bibel vorlesen oder vielleicht irgendeinen Andachtstext.«
Sie einigten sich auf den Termin für das Begräbnis: Sonntag um zwei Uhr nachmittags. Bruno würde im Napa County Memorial Park neben Katherine, seiner Adoptivmutter, zur letzten Ruhe gebettet werden.
Joshua wollte gerade gehen, da meinte Tannerton noch: »Ich hoffe, daß Ihnen unsere Dienste bis jetzt angenehm waren, und möchte Ihnen versichern, daß ich alles menschenmögliche tun werde, damit auch der Rest glatt abläuft.« »Nun«, erklärte Joshua, »eines ist mir durch Sie klar geworden: Ich werde morgen ein neues Testament aufsetzen. Wenn meine Zeit kommt, möchte ich feuerbestattet werden.« Tannerton nickte. »Das können wir für Sie erledigen.« »Nicht drängeln, junger Mann. Nicht drängeln.« Tannertons Gesicht errötete. »Oh, ich wollte nicht ...« »Ich weiß, ich weiß. Ganz ruhig bleiben.«
Tannerton räusperte sich verlegen. »Ich werde ... äh ... Sie zur Tür bringen.«
»Nicht notwendig. Ich finde schon hinaus.« Draußen war die Nacht sehr dunkel. Es gab nur ein einziges Licht, eine Hundertwattbirne über der hinteren Tür. Der Lichtschein reichte etwa einen knappen Meter in die samtene Schwärze hinein.
Am späten Nachmittag war eine leichte Brise aufgekommen, die nun zum Wind angeschwollen schien. Es war kühl, und der Wind pfiff und heulte.
Joshua ging zu seinem Wagen, der jenseits des Lichthalbkreises stand. Als er die Tür öffnete, beschlich ihn das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden. Er drehte sich zum Haus um, aber an den Fenstern waren keine Gesichter zu sehen. Etwas regte sich in der Finsternis, zehn Meter entfernt, in der Nähe der für drei Fahrzeuge bestimmten Garage. Joshua fühlte mehr, als er sah. Er kniff die Augen zusammen, aber sie waren nicht mehr so gut wie früher einmal; er konnte nichts Unnatürliches wahrnehmen.
Nur der Wind, dachte er. Nur
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