Flüstern in der Nacht
Politiker. Er hatte dichtes weißes Haar – nicht kalkweiß, nicht gelbweiß, sondern glänzend silberweiß –, eine breite Stirn, eine lange stolze Nase und ein kräftiges Kinn. Seine kaffeebraunen Augen wirkten munter und klar. Bruno Fryes Leiche wurde aus dem Flugzeug in den Leichenwagen geladen und nach St. Helena überführt. Joshua Rhinehart folgte in seinem eigenen Wagen.
Es bestand weder eine geschäftliche noch eine persönliche Verpflichtung, die Joshua gezwungen hätte, diese Reise nach Santa Rosa mit Avril Tannerton zu unternehmen. Er war über viele Jahre für das Shade-Tree-Weingut tätig, jene Firma, die sich seit drei Generationen im Besitz der Familie Frye befand, brauchte aber die Einkünfte von dieser Mandantschaft schon lange nicht mehr, einer Mandantschaft, die tatsächlich in letzter Zeit viel mehr Ärger bereitet, als ihm Nutzen eingebracht hatte. Trotzdem kümmerte er sich nach wie vor um die Angelegenheiten der Fryes, in erster Linie deshalb, weil er immer wieder an die Zeit vor fünfunddreißig Jahren dachte, wo er sich mühsam eine Praxis in Napa County aufgebaut und ihm Katherine Fryes Entscheidung dabei sehr geholfen hatte, daß er fortan die Familie in allen juristischen Fragen vertreten sollte. Gestern erfuhr er von Brunos Tod, aber das bedrückte ihn keineswegs. Weder für Katherine noch für ihren Adoptivsohn konnte er je besondere Zuneigung empfinden; ganz gewiß hatten die beiden auch jene gefühlsmäßigen Bindungen der Freundschaft nicht gerade gefördert. Joshua begleitete Avril Tannerton nur deshalb zum Flughafen von Santa Rosa, weil er für den Fall, daß irgendwelche Reporter auftauchten und versuchten, aus dem Ganzen einen Zirkus zu machen, zugegen sein wollte. Obwohl Bruno nicht besonders stabil gewesen war, zumindest sehr krank, vielleicht sogar durch und durch bösartig, so wollte Joshua doch dafür sorgen, daß die Bestattungsfeierlichkeiten mit der gebotenen Würde abliefen. Er hatte das Gefühl, dem Toten dies schuldig zu sein. Außerdem kämpfte Joshua zeit seines Lebens für das Napa-Tal, sowohl für die Lebensqualität, die es bot, als auch für seinen großartigen Wein, und wollte jetzt nicht, daß das verbrecherische Tun eines einzelnen Mannes ein schlechtes Licht auf seine Heimat warf.
Glücklicherweise tauchte kein Reporter am Flughafen auf. Sie fuhren im verblassenden Licht und den längerwerdenden Schatten nach St. Helena zurück, östlich an Santa Rosa vorbei, quer durch die südlichen Ausläufer des Sonoma-Tales hinein in das fünf Meilen breite Napa-Tal und dann im gelblich-purpurnen Abendlicht nordwärts. Joshua, der hinter dem Leichenwagen fuhr, bewunderte die Landschaft, wie er dies auch in den letzten fünfunddreißig Jahren mit stets wachsender Freude getan hatte. Die hochragenden Bergketten bedeckten Fichten, Birken und Kiefern, und die jetzt im Westen versinkende Sonne beleuchtete nur noch die obersten Kämme; jene Bergketten stellten Bollwerke dar, dachte Joshua, große Mauern, die die korrumpierenden Einflüsse einer weniger zivilisierten Welt fernhielten. Am Fuß der Berge erstreckten sich sanfte, mit hohem, trockenem Gras bedeckte Hügel, die im Tageslicht blond und weich wie Seide wirkten; jetzt aber, in der zunehmenden Dämmerung, schimmerte das Gras wie dunkle Wogen, die eine sanfte Brise bewegte. Jenseits der kleinen, malerischen Dörfer bedeckten endlose Weingärten manche der Hügel und den größten Teil des fruchtbaren Flachlandes. 1880 schrieb Robert Louis Stevenson über das Napa-Tal: »Ein Winkel des Landes nach dem anderen wird mit einer Traube nach der anderen ausprobiert. Diese versagt, jene ist besser und die dritte am besten. Und so tasten sie sich nach ihrem Clos Vougeot und Lafite herum ... und der Wein ist in Flaschen gefüllte Poesie.« Als Stevenson im Tal seine Flitterwochen verbrachte und Silverade Squatters schrieb, gab es hier noch nicht einmal fünfzehnhundert Hektar Weinbaugebiet. Zur Zeit der Großen Seuche – der Prohibition, 1920 – standen bereits auf fünftausend Hektar Land Weinstöcke. Heute wurde auf einer Fläche von fünfzehntausend Hektar Wein angebaut und die Trauben schmeckten viel süßer und weniger acidisch als jene, die irgendwo sonst auf der Welt wuchsen. Ebensoviel Anbaufläche besaß das ganze Sonoma-Tal, das aber zweimal so groß war wie das Napa. Und zwischen den Weingärten lagen die großen Weingüter und Häuser; manche Besitzer hatten ehemalige Klöster oder Missionen im spanischen Stil
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