Flug 2039
ich zu unseren Plänen beigetragen hatte, waren vergebens gewesen: Den Himmel auf Erden würde ich nicht erleben.
Bevor ich einen Gedanken fassen konnte, trat die Sozialarbeiterin vor und sagte: »Wir wissen, worauf man Sie für diesen Fall programmiert hat. Und um das zu verhindern, werden wir Sie unter Beobachtung stellen.«
Zu der Zeit, als die Kirchenkolonie das Dekret hinsichtlich der Erlösung erlassen hatte, arbeiteten im ganzen Land verstreut etwa fünfzehnhundert Mitglieder. Eine Woche später waren es noch sechshundert. Ein Jahr später vierhundert.
Seitdem haben sich auch schon zwei Sozialarbeiter das Leben genommen.
Die Regierung hatte mich und die meisten anderen Überlebenden mit Hilfe der Beichtbriefe aufgespürt, die wir jeden Monat in die Kirchenkolonie schickten. Wir wussten nicht, dass wir Briefe und Geld an Kirchenälteste sandten, die bereits tot und im Himmel waren. Wir konnten nicht wissen, dass Sozialarbeiter jeden Monat unsere Aufstellungen lasen, wie oft wir geflucht oder unreine Gedanken gehabt hatten. Ich konnte der Sozialarbeiterin nichts erzählen, was sie nicht schon längst wusste.
Zehn Jahre sind seither vergangen, und man sieht keine überlebenden Kirchenmitglieder mehr zusammen. Und falls sich doch einmal zwei Überlebende begegnen, empfinden wir nur noch Scham und Abscheu. Wir haben unser höchstes Sakrament verraten. Wir schämen uns vor uns selbst. Wir verabscheuen uns gegenseitig. Die Überlebenden, die noch die Kirchentracht tragen, tun es, um sich ihres Plans zu rühmen. Sack und Asche. Sie konnten sich nicht retten. Sie waren schwach. Die Vorschriften existieren nicht mehr, aber das ist auch egal. Wir alle befinden uns auf direktem Weg in die Hölle.
Auch ich war schwach.
Also fuhr ich hinten im Polizeiauto mit in die Stadt. Die Sozialarbeiterin saß neben mir und sagte: »Sie waren das unschuldige Opfer einer brutalen tyrannischen Sekte, und wir wollen Ihnen dabei helfen, wieder auf die Füße zu kommen.«
Mit jeder Minute wurde ich immer weiter von dem fortgerissen, was ich hätte tun sollen.
»Soweit ich weiß, haben Sie ein Problem mit Masturbation«, sagte die Sozialarbeiterin. »Möchten Sie darüber sprechen?«
Mit jeder Minute wurde es schwerer, das zu tun, was ich bei meiner Taufe versprochen hatte. Erschießen, erstechen, ersticken, verbluten oder springen.
Außerhalb des Autos raste die Welt so schnell vorbei, dass meine Augen nicht mehr mitkamen.
»Bis heute war Ihr Leben ein furchtbarer Albtraum«, sagte die Sozialarbeiterin, »aber Sie werden schon wieder. Verstehen Sie mich? Haben Sie Geduld, das kriegen wir schon hin.«
Das ist nun fast zehn Jahre her, und ich warte immer noch.
Damals war es bequem, ihren Worten zu vertrauen.
Zehn Jahre später hat sich nicht viel geändert. Zehn Jahre Therapie, und ich bin praktisch nicht von der Stelle gerückt. Wohl kaum ein Grund zum Feiern.
Wir sind immer noch zusammen. Heute ist unsere Wochensitzung Nummer fünfhundert ungrad, und heute sind wir im blauen Gästebad. Im Gegensatz zu dem grünen, dem weißen, dem gelben und dem lavendelfarbenen Gästebad. Daran sieht man, wie viel Geld diese Leute verdienen. Die Sozialarbeiterin sitzt auf dem Rand der Badewanne, die bloßen Füße hat sie im warmen Wasser ausgestreckt. Die Schuhe hat sie auf den heruntergeklappten Toilettendeckel gestellt, neben ihr Martiniglas mit Grenadine, zerstoßenem Eis, Puderzucker und weißem Rum. Nach jeweils zwei Fragen beugt sie sich mit dem Kugelschreiber in der Hand vor und hebt das Glas am Stiel an, sodass sich Kuli und Glas in ihrer Hand wie Essstäbchen kreuzen.
Mit ihrem letzten Freund habe sie Schluss gemacht, erzählt sie mir.
Gott behüte, dass sie fragt, ob sie mir beim Putzen helfen soll.
Sie nimmt einen Schluck. Während ich antworte, stellt sie das Glas wieder hin. Sie schreibt etwas in das Notizheft, das sie auf den Knien ruhen hat, stellt die nächste Frage, nimmt den nächsten Schluck. Ihr Gesicht ist mit Schminke wie zubetoniert.
Larry, Barry, Jerry, Terry, Gary. Alle ihre Exfreunde laufen einer wie der andere davon. Sie sagt, die Anzahl ihrer Exklienten und Exfreunde liefert sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
Diese Woche, sagt sie, haben wir einen neuen Tiefstand erreicht: Landesweit noch einhundertundzweiunddreißig Überlebende, aber die Selbstmordrate pendelt sich allmählich ein.
Wie im Terminkalender vorgesehen, schrubbe ich die Fugen zwischen den kleinen blauen sechsseitigen Kacheln auf dem Fußboden. Das
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