Flug 2039
den Bürgersteig. Mein Kopf zählt eins, zwei, drei. Überall am Boden zwischen den Tauben liegen Kassenzettel mit hohen Beträgen herum. Wieder hebe ich einen auf. Einhundertdreiundsiebzig Dollar könnte ich damit einsacken. Ich werfe ihn weg.
Nachdem ich die Sozialarbeiterin kennen gelernt hatte, hatte ich etwa drei Monate lang eine dissoziative Identitätsstörung, weil ich ihr nichts von meiner Kindheit erzählen wollte.
Dann hatte ich eine schizoide Persönlichkeitsstörung, weil ich nicht bei ihrer wöchentlichen Therapiegruppe mitmachen wollte.
Dann hatte ich, weil sie fand, das könne eine gute Fallstudie ergeben, das Koro-Syndrom: Dabei bildet man sich ein, der eigene Penis werde immer kleiner, und wenn er ganz verschwunden sei, werde man sterben (Fabian, 1991; Tseng u.a., 1992).
Als Nächstes sollte ich das Dhat-Syndrom haben, eine Krise aufgrund der Überzeugung, dass man sein ganzes Sperma verliert, wenn man feuchte Träume hat oder bloß mal pinkeln geht (Chadda & Ahuja, 1990). Das geht auf den alten Hindu-Glauben zurück, dass ein Tropfen Knochenmark aus vierzig Tropfen Blut und ein Tropfen Sperma aus vierzig Tropfen Knochenmark gebildet wird (Akhtar, 1988). Sie sagte, es sei kein Wunder, das ich ständig so müde sei.
Sperma erinnert mich an Sex erinnert mich an Bestrafung erinnert mich an Tod erinnert mich an Fertility Hollis. Wir haben frei assoziiert, wie die Sozialarbeiterin das genannt hatte.
Bei jeder unserer Sitzungen diagnostizierte sie ein anderes Problem, das sie bei mir vermutete; sie gab mir zudem ein Buch, damit ich über die Symptome selbst nachlesen konnte. Und nächste Woche hatte ich das Gelesene alles haargenau.
Eine Woche war ich Pyromane. Eine Woche später war meine geschlechtliche Identität gestört.
Sie erklärte, ich sei Exhibitionist, und eine Woche später habe ich ihr meinen Hintern gezeigt.
Sie erklärte, ich habe ein Aufmerksamkeitsdefizit, und schon wechselte ich ständig das Thema. Ich hatte Klaustrophobie, und schon mussten wir uns nach draußen auf die Veranda verziehen.
Ich gehe durch die Stadt, und meine Füße wechseln zu den zwei langsamen, drei schnellen Schritten des Cha-Cha-Cha. In meinem Kopf laufen immer noch die zehn Lieder, die wir den ganzen Nachmittag gehört haben. Wieder entdecke ich einen Kassenzettel, der da wie ein veritabler 5-Dollar-Schein auf dem Bürgersteig liegt, und tänzle einfach daran vorbei.
Das Buch, das die Sozialarbeiterin mir gegeben hat, hieß Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen. Wir nannten es einfach nur DSM. Sie gab mir eine Menge ihrer alten Lehrbücher zu lesen, in denen Farbfotos von Models zu sehen waren, die dafür bezahlt wurden, mit glückstrahlender Miene nackte Babys hochzuhalten oder Hand in Hand bei Sonnenuntergang am Strand zu spazieren. Zur Illustration von Elend gab es Fotos von Models, die dafür bezahlt wurden, dass sie sich illegale Drogen in den Arm spritzten oder einsam an einem Tisch saßen und sich betranken. Es kam so weit, dass die Sozialarbeiterin das DSM einfach auf den Fußboden warf und ich dann das Bild, das dabei zufällig aufschlug, eine Woche lang nachzustellen versuchte.
Damit waren wir beide zufrieden. Eine Zeit lang. Sie glaubte, jede Woche einen Schritt voranzukommen. Ich hatte ein Drehbuch, an das ich mich halten konnte. Das war keineswegs langweilig, und bei all den künstlichen Problemen, die sie mir anhängte, brauchte ich mir wegen der wirklichen Probleme keinen Stress mehr zu machen. Jeden Dienstag bekam ich von der Sozialarbeiterin eine neue Diagnose, mit der ich mich dann beschäftigen konnte.
In unserem ersten Jahr blieb mir gar keine Zeit, an Selbstmord zu denken.
Wir machten den Stanford-Binet-Test, um das Alter meines Gehirns zu bestimmen. Wir machten den Wechsler-Test. Wir machten das Minnesota Multiphasic Personality Inventory. Das Millon Clinical Multiaxial Inventory. Das Beck Depression Inventory.
Die Sozialarbeiterin fand alles über mich heraus, nur nicht die Wahrheit.
Ich wollte mich einfach nicht reparieren lassen.
Welche Probleme auch immer ich tatsächlich haben mochte, ich wollte mich nicht von ihnen heilen lassen. Keines meiner kleinen Geheimnisse wollte sich aufspüren und wegerklären lassen. Weder durch Mythen. Noch durch meine Kindheit. Noch durch Chemie. Ich fragte mich voller Angst: Was würde dann noch übrig bleiben? Und so sind meine wahren Ressentiments und Ängste nie ans Licht gekommen. Ich wollte meine Phobien nicht
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